Voll Speed: Roman (German Edition)
aufzurichten: »Auf dem Rumpf steht: ›Betreten verboten!‹, Klammer auf, ›außer Erdmännchen‹, Klammer zu.« Er haut sich die Klaue aufs Ohr und beginnt zu dozieren: »›Survival of the fittest‹ – hat Charles Darwin bereits im neunzehnten Jahrhundert erkannt. Übersetzt ins einundzwanzigste Jahrhundert heißt das: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.« Er stößt einen Seufzer aus. »Wieso glaubt mir das nur keiner?« Während mir noch das vor Entsetzen geweitete Maul offen steht, nuschelt er: »Die Stromstärke ist entscheidend. Vierzehn Amperestunden sind nichts für Anfänger.« Dann wendet er sich wieder an die Ratten: »Noch jemand einen Versuch? Sind noch Lose in der Trommel!«
Der Capo richtet in Zeitlupe seine Augenklappe auf uns. Pause. »Man sieht sich immer zweimal.«
»Zweimal mit einem Auge«, überlegt Rufus. »Ist das dann bei dir wie einmal mit zwei Augen?«
»Du …«, stottere ich. »Du hast …«
»Wenn ich sage, das Boot ist safe«, flüstert Rufus, »dann ist das Boot safe«.
Wahrscheinlich, denke ich, hab ich ihn doch zeitlebens unter schätzt.
Rufus weiß, wo wir sind. Sagt er. Allerdings dauert der Rückweg inzwischen gefühlt bereits doppelt so lange wie der Hinweg. Zwar haben wir unbeschadet die Begegnung mit den Ratten überstanden, doch das relaxte Gefühl von vorhin will sich nicht wieder einstellen, elektrische Reling hin oder her. Im Schleichtempo zockeln wir durch Kanäle, die ich garantiert noch nie gesehen habe, schweigend, immer auf der Hut vor einem plötzlichen Angriff.
Schließlich gelangen wir doch noch an eine Stelle, die auch mir bekannt vorkommt. Vor uns teilt sich der Kanal, und von dem linken Bogen hängt eine defekte Neonröhre herab. Unter der sind wir bereits auf dem Hinweg hindurchgefahren. Erleichtert dreht Rufus am Regler, das Heck taucht sportlich ins Wasser ein, mein Bruder visiert die Röhre an, das Boot neigt sich elegant auf die Seite und im nächsten Moment … heult der Motor auf, das Boot wird nach hinten gerissen, und Rufus und ich werden gegen die Windschutzscheibe geschleudert.
Panisch schnellen wir in die Höhe und blicken uns um: Ratten, unter Garantie. Rufus dreht den Regler herunter und tastet unwillkürlich nach dem Schalter auf der Traforückseite. Stille.
»Unter der Bank ist eine LED-Leuchte«, haucht er.
Ich klappe die Sitzfläche hoch, taste in der Bank herum, finde eine Fahrradleuchte an einem Klettband und schalte sie ein. Mit dem Lichtkegel suche ich die Bordsteine ab und wage mich in den vor uns liegenden Tunnel hinein. Noch immer ist kein Laut zu hören. Nichts. Keine Ratte, kein Geräusch, kein gespanntes Seil. Mir wird klar, dass wir nicht gegen ein Seil gefahren, sondern aufgelaufen sind.
Mit Adrenalin statt Blut in den Adern beuge ich mich über das Heck, leuchte ins Wasser und versuche, in der grünlichen Brühe etwas zu erkennen. Einer der beiden Außenborder scheint frei zu sein, der andere allerdings ist blockiert, und zwar weil – widerwillig tauche ich meine Klaue in die Kloake – sich die Schraube in einer Kordel verfangen hat. Als ich daran ziehe, zeigt sich, dass die Kordel zu einer wahrscheinlich blauen Jacke gehört, deren Saum sich wie ein Fisch kurz an der Oberfläche zeigt, ehe er wieder abtaucht. Uff. Mein Puls beginnt, sich zu beruhigen.
Dann jedoch bemerke ich, dass ein anderer Teil dieser Jacke bereits die ganze Zeit neben dem Heck durch das Wasser schimmert: das Endstück eines Ärmels. Und aus diesem Ärmel ragt … Ich bringe die Leuchte so nah heran wie möglich: Jepp. Das ist eine menschliche Hand. Kein Zweifel. Und der Rest des dazugehörigen Menschen steckt wahrscheinlich noch drin, in der Jacke, und da drüben, das scheinen tatsächlich Haare zu sein, ein dunkel behaarter Hinterkopf.
Wir sind auf eine Leiche aufgelaufen.
»Glaubst du, er ist tot?«, fragt Rufus, nachdem ich ihm meine Entdeckung gezeigt habe.
Mein Bruder wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben. Er kann schreiben, lesen, Boote reparieren und DJ-Apps auf sein Smartphone laden, aber wenn er in der Kanalisation einem kopfunter treibenden Menschen begegnet, überlegt er ernsthaft, ob der wohl möglicherweise tot sein könnte.
»Der übt bestimmt nur, wie lange er die Luft anhalten kann«, entgegne ich.
»Hier unten?«
»Rufus!«
»Hm?«
Ich sehe ihn an: »Natürlich ist er tot!«
»Ach so, klar.« Ich sehe seine Krallen zucken.
»Und hau dir jetzt nicht wieder die Klaue aufs Ohr!«
»Ist klar.« Natürlich
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