Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Zusammen mit der gleichzeitigen Erhöhung der Ölpreise und der massiven Aufwertung der D-Mark nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973 wurde Deutschland insgesamt zu einer teuren Region. Praktisch alle Produktionskosten waren massiv gestiegen, und ein beträchtlicher Teil der deutschen Industrie konnte nicht mehr profitabel produzieren. Der Weg in die bisher schlimmste Rezession der Nachkriegszeit war vorgezeichnet und, wie sich herausstellte, auch das Ende der Vollbeschäftigung.
Es ist eine Geschichte vom Paradies am Arbeitsmarkt, gefolgt von der Vertreibung aus dem Paradies. Zunächst in den 1950er-Jahren das Wirtschaftswunder, das nur deshalb nicht zu schnell steigenden Lohnkosten führte, weil es eine Zeit lang noch genug Konkurrenz gab, und zwar durch gut qualifizierte Vertriebene und DDR-Flüchtlinge. Hinzu kam, dass deren Integration als eine Art nationale Aufgabe galt, der sich auch die Tarifpartner nicht entziehen konnten. Rätselhaft bleibt allerdings, warum auch nach definitivem Erreichen der Vollbeschäftigung 1960 die Lohnkosten noch immer nicht kräftig anzogen. Denn es war durchaus leicht vorauszusehen, dass in den kommenden Jahren die Knappheit an Arbeitskräften eher zu- als abnehmen würde. Der industrielle Erfolg Deutschlands sorgte seinerzeit für eine weiter zunehmende Arbeitsnachfrage. Und auf der Seite des Arbeitsangebots ließ die demografische Entwicklung eine zunehmende Knappheit erwarten. Die quantitativ starke Generation der zwischen 1895 und 1905 geborenen Deutschen begann sich nämlich in den Ruhestand zu verabschieden, während die quantitativ schwache Generation der zwischen 1940 und 1950 geborenen Kriegs- und Nachkriegskinder in den Arbeitsmarkt hineinwuchs und später zur 68er-Generation mutierte.
Was lag da näher, als die starke Verhandlungsposition der Arbeitnehmer auszureizen und in Lohnerhöhungen umzusetzen? Es ist merkwürdig, dass es dazu ein Jahrzehnt lang nicht kam. Es bleibt bis heute eine offene Frage, warum dies so war. Zu beantworten ist sie bestenfalls mit einem Verweis auf die indirekten Wirkungen des herrschen Arbeitskräftemangels auf die typische Situation eines deutschen Arbeiters oder Angestellten. Der sah sich vor überaus reizvollen Aufstiegschancen: Wegen des Ausscheidens der älteren Generation boten sich Möglichkeiten, in frei werdende Positionen hineinzurücken, individuell besser bezahlt und mit mehr Verantwortung. Dies setzte allerdings voraus, dass auf die eigene bisherige Position jemand nachrückte, der die weniger anspruchsvolle, aber trotzdem für die Produktion notwendige Arbeit erledigte. Nach Lage der Dinge konnten dies nur Zuwanderer sein – ohne besondere Qualifikationen, aber mit der Motivation und Fähigkeit zur einfachen Arbeit. Der Zustrom der Gastarbeiter ermöglichte deshalb indirekt das, was Soziologen vertikale Mobilität nennen: Die Deutschen stiegen auf und die Gastarbeiter rückten nach. Es lag möglicherweise wirklich nicht im Interesse einer ganzen Generation von deutschen Arbeitern und Angestellten, diesen Prozess durch allzu aggressive Lohnforderungen zu gefährden. Entsprechend mäßigend wirkten sie auf ihre Gewerkschaftsvertreter ein, und dies schlug sich in den Tarifabschlüssen nieder.
Hinzu kam das, was man im Rückblick – und mit der Erfahrung späterer glückloserer Jahre – als „Privatisierung der Arbeitsmarktpolitik“ bezeichnen könnte. Gemeint ist damit der große Anreiz von Unternehmen, in die Weiterbildung und das berufliche Fortkommen der deutschen Arbeitnehmerschaft zu investieren: Umschulungs-, Qualifikations- und Mobilitätskosten wurden von den Arbeitgebern bereitwillig übernommen und tauchten natürlich nicht in den Lohnstatistiken auf, kamen aber den Arbeitnehmern zugute. Was später zu Zeiten der Massenarbeitslosigkeit der Staat oder der Erwerbswillige selbst finanzieren musste, besorgte in den 1960er-Jahren aus purem Eigeninteresse der Arbeitgeber. In gewisser Weise wirkte dies wie eine (unsichtbare) zusätzliche Entlohnung.
Ähnliches gilt, wenn auch indirekter, für die Bereitschaft der Unternehmen, jenseits der industrialisierten urbanen Zentren in ländlicheren Regionen zu investieren, einfach weil nur dort noch qualifizierte Arbeitskräfte überhaupt zu haben waren. Zunehmend kam also das Kapital zur Arbeit und nicht, wie noch in den 1950er-Jahren, die Arbeit zum Kapital. So erreichte die „systematische“ Wanderung von Arbeitskräften von strukturschwachen in
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