Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft interessierten, spürten damals sehr genau, dass Deutschland an einer Art Zeitenwende stand. Das Bild der „Vertreibung aus dem Paradies“ ist also keineswegs nur eine Interpretation im Nachhinein. Es entsprach damals durchaus einem weitverbreiteten Lebensgefühl.
So eindeutig der Bruch zu identifizieren ist, so schwierig bleibt er zu erklären, zumindest am Arbeitsmarkt. Denn objektiv war die Situation 1969 nicht viel anders als etwa 1965: hohe Auslastung der Kapazitäten, minimale Arbeitslosigkeit, große Zahl offener Stellen. Zugegeben, der einsetzende Boom hatte noch stärker inflationäre Züge als Mitte der 1960er-Jahre, aber der Unterschied kann kaum begründen, warum es 1969/70 zu überaus scharfen Lohnanstiegen kam, in den früheren Jahren dagegen nicht. Wie so oft bei der Terminierung von Brüchen steht man vor einem Rätsel: lange Jahre eine unerklärliche Lohnzurückhaltung, und dann eine ebenso unerklärliche Lohnexplosion, die weit über das hinausgeht, was eine gleichgewichtige Anpassung erfordert.
Als Erklärung am plausibelsten, aber noch immer hochspekulativ, ist eine politische Interpretation der merkwürdigen Ereigniskette der 1960er- und frühen 1970er-Jahre. Sie lautet etwa wie folgt: In keinem Zeitraum der bundesdeutschen Geschichte bemühte sich die Bundespolitik so intensiv, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in die Maßnahmen der gesamtwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik einzubinden. Einen Höhepunkt erreichte dieses Bemühen in dem Versuch des Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller, eine konzertierte Aktion von Regierung, Zentralbank und Tarifpartnern zustande zu bringen, um die Inflation zu bekämpfen und später dann möglichst rasch die scharfe Rezession 1967 zu überwinden. Im Großen und Ganzen zwang das fast permanente Kooperationsangebot der Politik die Gewerkschaften, durch eine gemäßigte Gangart die Möglichkeit zu wahren, auf Dauer maßgeblichen Einfluss auf die Bundespolitik zu gewinnen. Dies galt vor allem so lange, wie die Regierungsführung durch die Sozialdemokraten, die traditionellen Verbündeten der Gewerkschaften, wohl eine berechtigte Hoffnung, aber noch nicht Realität war. Als sie es dann 1969 wurde, entfiel der Grund zur Zurückhaltung, zumal die Basis revoltierte. Die Rechnung wurde präsentiert, und die Vertreibung aus dem Paradies begann. Die lange so stabile Wechsellage der Vollbeschäftigung neigte sich dem Ende zu.
1.4 Seit 1973: Die harte Welt der Babyboomer
Die schwere Rezession 1974/75 markiert eine Wasserscheide in der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte. Sie nahm einen zweistufigen Verlauf: Zunächst brach im Jahr 1974 die Binnenkonjunktur ein, und die Experten waren eigentlich zuversichtlich, dass im darauffolgenden Jahr eine Erholung folgen würde. Stattdessen traf es im Jahr 1975 mit aller Wucht den Welthandel und damit auch die (längst sehr große) westdeutsche Exportwirtschaft. Es kam zu einem scharfen Einbruch der Beschäftigung. Im Zeitraum von drei Jahren (1973 bis 1976) verschwanden per saldo 1,24 Millionen industrielle Arbeitsplätze 29 ; allein im verarbeitenden Gewerbe mit seiner starken Exportorientierung waren es 924.000, also gut zehn Prozent der Beschäftigung. Die Arbeitslosenquote stieg auf fast fünf Prozent, ihr höchstes Niveau seit zwei Jahrzehnten.
Es war wirklich alles an unglücklichen Umständen zusammengekommen, was zu einer konjunkturellen Talfahrt beitragen konnte; und bis 1993 blieb ja auch 1975 mit einer Schrumpfung des Bruttoinlandsproduktes um 0,9 Prozent das Jahr mit der schlechtesten wirtschaftlichen Bilanz der bundesdeutschen Geschichte. Es ist aber eigentlich nicht die Tiefe, die jene Rezession zu einer Wasserscheide der Wirtschaftsgeschichte macht. Es ist vielmehr der Umstand, dass mit ihr eine erste irreversible Schrumpfung der Industrie einherging, bedingt durch die inzwischen drastisch erhöhten Produktionskosten der Unternehmen in Kombination mit dem starken konjunkturellen Einbruch. Das verarbeitende Gewerbe in Westdeutschland hatte, was die Zahl der Beschäftigten betrifft, mit rund neun Millionen in der Zeit 1970 bis 1973 sein historisches Hoch; dieses Niveau wurde später nie mehr erreicht.
Im Rückblick ist dies nicht wirklich überraschend, erweisen sich doch die 1960er- und frühen 1970er-Jahre, wie wir gesehen haben, historisch als eine Art Spätblüte der Überindustrialisierung. Für die Zeitgenossen – und selbst die Experten unter ihnen – war
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