Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
strukturstarke Regionen in den 1960ern und frühen 1970ern in der bundesdeutschen Geschichte einen Tiefpunkt. 25 Ähnliches gilt für die Streuung der Arbeitslosenquoten zwischen Regionen in Westdeutschland zu dieser Zeit: Niemals vorher und nachher war der Abstand zwischen den wirtschaftlichen Zentren und der Peripherie geringer als zu jener Zeit der Voll- beziehungsweise Überbeschäftigung. 26
Es gab also gute Argumente dafür, warum die deutschen Arbeitnehmer ein Interesse daran hatten, vor allzu aggressiven Lohnforderungen zurückzuschrecken. Damit halfen sie selbst mit, dass die Expansion der Industrie noch ein gutes Stück länger währte, als die Arbeitsmarktlage dies eigentlich rechtfertigte. Hinzu kam die Einbindung Deutschlands in das Bretton-Woods-System fester Wechselkurse: Bei einer Parität des US-Dollars von vier D-Mark (bis 1961 sogar 4,20 D-Mark) erwies sich die deutsche Industrie als höchst wettbewerbsfähig – mit der Folge, dass ab Mitte der 1960er-Jahre das Land permanent hohe Überschüsse der Leistungsbilanz erwirtschaftete und weiter expandierte. Ermöglicht wurde all dies letztlich durch den Zustrom der Gastarbeiter, denn nur das Erschließen dieses zusätzlichen Potenzials an Arbeitskräften erlaubte erst, das nötige Produktionsniveau zu halten und auszubauen.
Die Gefahr dieser Strategie lag indes auf der Hand: Die Überbeschäftigung bedeutete auch eine Art Überindustrialisierung, und zwar in dem Sinne, dass bei einer veränderten Konstellation der wichtigsten Bestimmungsgründe der Wettbewerbsfähigkeit – Löhne, Energiepreise, Währungsparität – ein beträchtlicher Teil der Industrie in größte Schwierigkeiten kommen würde, mit unabsehbaren Folgen. Tatsächlich gab es weitsichtige Ökonomen, die vor einer solchen Entwicklung warnten. 27 Ob diese wirklich vermeidbar war, lässt sich selbst im Nachhinein kaum beurteilen. Zu sehr prägte eine Vielzahl von politischen Zwängen das Handeln der Akteure, sodass eine gleitende Anpassung – obwohl theoretisch denkbar – wohl eine Illusion bleiben musste.
Und so geschah es, dass in wenigen Jahren wirklich alles zusammenkam: 1973 der Übergang zu flexiblen Wechselkursen mit massiver Aufwertung der D-Mark, im gleichen Jahr der erste große Ölpreisschock und vor allem ab 1969 eine Reihe aggressiver Lohnerhöhungen. Diese waren die Konsequenz eines veränderten Klimas, das insbesondere in einer Welle wilder Streiks im Herbst 1969 zum Ausdruck kam. Die Basis der Gewerkschaften revoltierte, weil die tariflichen Mindestlöhne seit Jahren hinter den sogenannten Effektivlöhnen hinterherhinkten. Übertarifliche Zuschläge (die „Lohndrift“) waren weithin zur Normalität geworden und warfen ein zunehmend schlechtes Licht auf die Strategie der Gewerkschaftsspitzen. 28 Offenbar hatten es die führenden Funktionäre über Jahre versäumt, den Spielraum auszuschöpfen, den die Entwicklung in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt für die Umverteilung zugunsten der Arbeitskräfte erlaubte. Den einfachen Gewerkschaftsmitgliedern riss schließlich die Geduld, und den Gewerkschaftsführungen blieb nichts anderes übrig, als in den kommenden Verhandlungsrunden eine neue, noch nie da gewesene Härte zu zeigen. Übrigens beeindruckte dies die Basis nachhaltig, und die Gewerkschaften erlebten in den Folgejahren einen massiven Zuwachs an Mitgliedern, den bisher letzten bis heute!
All diese Ereignisse liefen überaus dramatisch ab. Sie waren Teil der Geschichte jener turbulenten Zeit, in der es an vielen Fronten der Gesellschaft und der Politik zu großen Brüchen kam: ab 1968 die Revolte einer neuen Generation von Studenten, die den Klassenkampf auf ihre Fahnen schrieb; ab 1969 eine neue Bundesregierung, und zwar erstmalig seit Gründung der Bundesrepublik mit einem sozialdemokratischen Kanzler; ab 1970 die umstrittene außenpolitische Neuorientierung des Landes, von der reinen Westbindung zur Westorientierung plus Ostpolitik; ab 1971 der verzweifelte Kampf um die Rettung des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse; ab 1972 die weitverbreitete Diskussion um die Studie des Club of Rome Die Grenzen des Wachstums mit seinen Szenarien der Erschöpfung der globalen Rohstoffreserven; und schließlich ab 1973 der Ölpreisschock, der tiefe Bestürzung in der Bevölkerung hervorrief und von der Politik mit einem – zumindest vorübergehenden – Fahrverbot für Kraftfahrzeuge an ausgewählten Sonntagen beantwortet wurde. Fast alle Menschen, die sich für
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