Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Komfort und Qualität durchweg den entsprechenden Westprodukten unterlegen. Aber damit ließ sich leben, zumal es ja keine realistische Alternative gab.
Der damals mächtigste Mann der DDR, Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrats, erkannte den technischen Rückstand der DDR-Wirtschaft. Er hielt ihn für ein gefährliches Problem. Deshalb gab er unter anderem eine denkwürdige Losung aus: „Überholen ohne einzuholen“. Diese wurde später oft belächelt. Sie war aber damals ein ernster Aufruf zu einer technologischen Offensive, bei der es der mauergeschützten DDR endlich gelingen sollte, in einer völlig neuen Generation von Produkten wirklich führend zu sein und dadurch den Westen insgesamt hinter sich zu lassen, auch wenn der Rückstand bei eher schon traditionellen, etablierten Industrieprodukten erhalten bleiben sollte. War das nicht auch in der Raumfahrt den Sowjets gegenüber den Amerikanern gelungen? Die Hoffnung ruhte vor allem auf der modernen Elektronik, die in den späten 1960er-Jahren weltweit ihren ersten großen Aufschwung nahm. Deshalb lenkte Ulbrichts zentrale Planung – gezielt und massiv – Ressourcen in ausgewählte Felder dieser zukunftsweisenden Technologie. Es war der Versuch, die Atempause des Mauerbaus zu nutzen, um den Grundstein für künftiges Wachstum zu legen.
Der Versuch scheiterte kläglich. Denn ausgerechnet im Fehlen der Innovationskraft erwies sich die Schwäche der Planwirtschaft als besonders fatal. Wer als Erster einen Sputnik ins All befördern konnte, der war eben noch lange nicht imstande, die vielfältig differenzierten Herausforderungen der Technik zu bewältigen, wie sie sich an den Wünschen freier Kunden zu orientieren hatten. Die teure technologische Offensive traf deshalb auch auf zunehmenden Widerstand im Politbüro. Ulbricht wurde schließlich 1971 entmachtet. Sein Nachfolger Honecker riss das Steuer radikal herum, und zwar in eine konservative Richtung: weg von Versuchen, einen Entwicklungsschub zu forcieren, und stattdessen Bewahrung einer Minimalversorgung, wenn nötig mit schäbigen Produkten, aber mit Sicherheit von Arbeitsplätzen und Versorgung zu stabilen Preisen für das Lebensnotwendige.
Zunächst schien dies auch zu funktionieren, zumal der kapitalistische Westen im Zuge der Ölkrisen in einen Zustand der chronischen Unterbeschäftigung abglitt und von selbst gar nicht mehr ganz so anziehend wirkte. Aber spätestens in den 1980er-Jahren zeigte sich, dass die DDR wirklich nur mehr von der Substanz lebte. Die Lücke zum Westen klaffte immer weiter, und die Bilder des Westfernsehens machten dies jedermann deutlich. Den Machthabern fiel einfach nichts mehr ein, was sie Zukunftsweisendes mit ihrer eingeschlossenen Bevölkerung hätten unternehmen können. Und die reagierte schließlich mit einer friedlichen Revolution. Die Mauer fiel am 9. November 1989, die DDR verschwand am 3. Oktober 1990.
Die zweite Quelle der Zuwanderung waren Arbeitskräfte aus Südeuropa. Sie kamen zunächst in kleiner und ab 1960 in stark zunehmender Zahl nach Deutschland. Der Anteil der Ausländer an der Beschäftigung in Deutschland nahm kontinuierlich zu – von unter einem Prozent in den 1950er-Jahren bis auf 10,8 Prozent (1973). Bis zur Rezession 1967 wuchs die Zahl der ausländischen Beschäftigten jährlich um mindestens 100.000, nach 1968, als die Rezessionsfolgen abklangen, kam es bis einschließlich 1973 zu einem jährlichen Plus von über 150.000, in den Jahren 1969 bis 1971 sogar über 300.000. Trotz dieses Zustroms blieben im Zeitraum 1960 bis 1973 in jedem Jahr (außer in der Rezession 1967) deutlich mehr Stellen offen, als es Arbeitslose gab, im Spitzenjahr 1970 sogar mehr als fünfmal so viel ( Schaubild 5 ). Ein Zustand der absoluten Voll-, wenn nicht der chronischen Überbeschäftigung war erreicht und blieb über fast eineinhalb Jahrzehnte erhalten. Es gab kaum noch Reserven in der deutschen Bevölkerung, die zu mobilisieren waren. 23 In den zehn Jahren nach 1963 stieg die Zahl der beschäftigten Deutschen gerade mal um insgesamt 136.000, in den letzten Jahren hoher Auslastung der Kapazitäten (1970 bis 1973) praktisch gar nicht mehr. Deutschland war restlos vollbeschäftigt.
Ein bemerkenswerter Zustand. Es lohnt sich, an dieser Stelle kurz innezuhalten. War dieser Zustand der restlosen Vollbeschäftigung und seine Entstehung etwas historisch völlig Neues, eine Art einmalige Kuriosität der Nachkriegsgeschichte, die
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