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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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es vorher nie gab? Wir wissen es nicht, weil uns die nötigen Statistiken des Arbeitsmarktes zu früheren Zeiten fehlen, um es genau prüfen zu können. Gleichwohl fällt auch ohne statistische Tiefenschärfe ins Auge, dass es zum Wilhelminischen Kaiserreich ab den frühen 1890er-Jahren doch beachtliche Parallelen gibt, und zwar sowohl was den Weg in die Vollbeschäftigung als auch die Konservierung des Zustands über einen langen Zeitraum betrifft.

    Blicken wir zurück: Bis in die frühen 1890er-Jahre gab es ein großes Potenzial einer wachsenden Erwerbsbevölkerung, die lange Zeit entweder aus Verzweiflung auswanderte oder – eigentlich unterausgelastet – in der Landwirtschaft verblieb. Ab diesem Zeitpunkt begann eine kraftvolle Beschleunigung des (vor allem industriellen) Wachstums, das bisher ungenutzte Potenziale von Erwerbspersonen zügig absorbierte. Schon ab Mitte des Jahrzehnts prallte die Expansion hart gegen die Kapazitätsgrenzen der Wirtschaft – genau wie am Ende der 1950er-Jahre, als die arbeitslosen Vertriebenen und auch neu ankommende Flüchtlinge aus der DDR mit Leichtigkeit integriert wurden. Ab 1895 im Kaiserreich und ab den frühen 1960er-Jahren in der westdeutschen Bundesrepublik waren die jeweiligen Reserven voll ausgeschöpft. Weitere zu erschließen erforderte Zuwanderungen in großem Stil, aus Polen im Kaiserreich, aus Südeuropa in der Bundesrepublik.
    So weit die historische Parallele. Sie stimmt nachdenklich. Vielleicht steckt dahinter ein Wesenszug der kapitalistischen Marktwirtschaft oder jedenfalls ihrer deutschen Variante. Demnach gleitet die Wirtschaft bei Annäherung an die Vollbeschäftigung keineswegs sanft in das sich abzeichnende neue Regime, gewissermaßen von Gleichgewicht zu Gleichgewicht, gebremst durch Marktmechanismen, die graduell und nachhaltig einsetzen. Stattdessen rast sie recht unvermittelt in die neue Wechsellage hinein, neigt also zu einem „Überschießen“, das dann längerfristig anhalten kann. Das Ergebnis ist eben nicht ein harmonischer Gleichgewichtszustand der Vollbeschäftigung, sondern eine spannungsgeladene „Überbeschäftigung“, die weitere machtvolle Anpassungsprozesse in Gang setzt. Irgendwann entladen sich dann die Spannungen und führen zum abrupten Ende der Wechsellage, zurück in die Unterbeschäftigung. Immerhin folgte dem erfolgreichen Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg die erfolglose Weimarer Republik, und der Überbeschäftigung bis 1973 folgte chronische Arbeitslosigkeit.
    In der Tat liefern die 1960er- und frühen 1970er-Jahre beispielhaftes Anschauungsmaterial für die Zweischneidigkeit der Lage. Es ist nützlich, die Entwicklung etwas genauer zu betrachten. Zunächst gilt es festzustellen: Eine dynamische Zunahme der Arbeitsnachfrage ist auf Dauer nur aufrechtzuerhalten, wenn die Löhne sich nicht allzu schnell anpassen und damit die Arbeitskraft verteuern. Schaubild   6 zeigt die Entwicklung von Löhnen und Preisen ( Schaubild 6a ) sowie das Niveau der realen Lohnstückkosten ( Schaubild 6b ) für das Vierteljahrhundert 1950 bis 1975. Das Bild fällt dabei im Wesentlichen in zwei Teile: Bis 1969 gab es zwar kräftige Zuwächse der Nominallöhne, aber gemessen an der Preisinflation und der Entwicklung der Arbeitsproduktivität war die Zunahme durchaus nicht überhöht. Dies zeigt sich an den realen Lohnstückkosten – als Maß für das Verhältnis von Lohn und erwirtschaftetem Marktwert der Produktion, der mit der entlohnten Arbeit erzielt wird: 24 Sie schwankten zwar im Konjunkturzyklus, also Abnahme im Boom und Zunahme in der Rezession, getrieben vor allem von den üblichen zyklischen Änderungen der Arbeitsproduktivität; aber es kam im Trend nicht zu einer Zunahme, obwohl der Arbeitsmarkt schon ab Mitte der 1950er-Jahre von einsetzenden Knappheiten geprägt war. Die deutsche Volkswirtschaft wuchs eben schnell – in den 1950er-Jahren im Rekordtempo und in den 1960er-Jahren noch immer zügig; und dies erlaubte ordentliche Lohnsteigerungen, ohne die Dynamik am Arbeitsmarkt zu gefährden.

    So weit das Bild bis 1969. Ab diesem Zeitpunkt jedoch veränderte sich die Welt, abrupt und radikal. Innerhalb weniger Jahre schossen die Löhne nach oben, und zwar weit schneller als Konsumenten- und Erzeugerpreise. In nur fünf Jahren kletterten die Nominallöhne um 75 Prozent, die Reallöhne um 33 Prozent und die Lohnstückkosten um mehr als acht Prozent. Eine neue Zeit kündigte sich an. Vorbei waren die Jahre billiger Arbeit.

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