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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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dies keineswegs so klar, wenn auch manche von ihnen die Radikalität der Veränderung durchaus zur Kenntnis nahmen. 30 Aber für sie lagen die langfristigen Konsequenzen dieser Entwicklung noch im Dunkeln, gerade auch mit Blick auf den Arbeitsmarkt. Jedenfalls hätten die meisten sich wohl kaum träumen lassen, dass die Deutschen auch dreieinhalb Jahrzehnte später mit Arbeitslosenquoten leben würden, die sogar noch über jenen lagen, die sich gegen Ende der Rezession Mitte der 1970er-Jahre einstellten.
    Wie kam es dazu? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die wesentlichen Veränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt in der Zeit von der Mitte der 1970er-Jahre bis heute ins Visier nehmen, und zwar wieder aus einer Art volkswirtschaftlichen Vogelperspektive. Es ist dabei zweckmäßig, zunächst zwischen dem „Arbeitsangebot“, also dem Potenzial der Erwerbspersonen, und der „Arbeitsnachfrage“, also den zu besetzenden Arbeitsplätzen der Unternehmen, zu unterscheiden. Erst später werden wir beides wieder zusammenführen.
Angebot
    Beginnen wir mit dem Arbeitsangebot, also mit den Menschen, die arbeiten wollen und können („Erwerbspersonen“). Hier waren die Veränderungen zunächst weit weniger spektakulär als auf der Seite der Arbeitsnachfrage, aber dafür nicht weniger nachhaltig. Ab Mitte der 1970er-Jahre begann nämlich die Generation der Babyboomer, auf den Arbeitsmarkt zu strömen. Es sind all jene Menschen, die in Deutschland etwa in den 15 Jahren ab 1955 geboren wurden. Es ist die zahlenstärkste Generation, die es bis heute in Deutschland gegeben hat. Sie sorgte dafür, dass in den 15 Jahren, die der Krise von 1975 folgten, die Zahl der Erwerbspersonen in Westdeutschland um etwa 4,8 Millionen zunahm und 1986 erstmals über 30 Millionen lag. Sie ersetzte am Arbeitsmarkt die ausscheidende Generation der im Zeitraum 1910 bis 1925 Geborenen, die wegen der Kriegs- und Nachkriegswirren sowie der Opfer der beiden Weltkriege erheblich kleiner ausfiel und im Übrigen auch im Durchschnitt ein deutlich schlechteres Ausbildungsniveau aufwies.
    Es gab also fortan eine massive neue Konkurrenz um Arbeitsplätze durch eine Generation, die in Zahl und auch beruflicher Qualifikation alles bisher Dagewesene übertraf. Die Zuwanderung von Erwerbspersonen aus Südeuropa kam deshalb fast schlagartig zu ihrem Ende; es gab 1973 sogar ganz explizit einen „Anwerbestopp“ von Gastarbeitern. Fortan sank der Anteil der Ausländer an der Beschäftigung in Westdeutschland kontinuierlich, von fast elf Prozent (1973) auf unter sieben Prozent (ab 1984). Diese Entwicklung war fast ausschließlich auf das Hineinwachsen der Babyboomer in das Arbeitsleben zurückzuführen.
    Unter normalen historischen Umständen wäre wohl die Zunahme des Arbeitskräftepotenzials in Westdeutschland etwa um 1990 zu Ende gekommen, eben mit der Integration der westdeutschen Babyboomer. In der Tat gab es in vielen westeuropäischen Ländern mit ähnlicher demografischer Entwicklung um diese Zeit eine deutliche „Entlastung“ des Arbeitsmarkts, weil die auch dort vorhandene Generation von Babyboomern absorbiert war und erste Knappheiten entstanden. 31 Die spezifisch deutsche Geschichte wollte es, dass dem nicht so sein konnte. Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 veränderte sich die Lage radikal. Rein theoretisch kam mit der Wiedervereinigung zwar nicht nur ein neues Potenzial an Arbeitskräften hinzu, sondern auch eine ostdeutsche Wirtschaft, die diesen die nötigen Arbeitsplätze bieten konnte. In der Praxis führte aber der fast komplette Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie dazu, dass ein großer Teil der früheren DDR-Beschäftigten – direkt oder indirekt – zu Arbeitsuchenden wurde, und zwar nicht nur im Osten des wiedervereinigten Landes, sondern auch im Westen.
    Es war eine völlig neue Situation für den westdeutschen Arbeitsmarkt: Über Nacht verschmolz er in einen gesamtdeutschen Markt, mit hoher Mobilität der Menschen zwischen Ost und West. Das Potenzial der Erwerbspersonen stieg von 32 auf 41 Millionen Menschen. Schnell war von den zusätzlichen neun Millionen Erwerbspersonen ein weit überproportionaler Teil arbeitslos, und ein beträchtlicher Teil saß auf Arbeitsplätzen, die jederzeit im Zuge der bevorstehenden Umstrukturierung wegfallen konnten. In vielerlei Hinsicht ähnelte die Problemlage der Situation Westdeutschlands in den frühen 1950er-Jahren, als

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