Volle Deckung Mr. Bush
den »Gesetzestext selbst zu lesen«, um sich Klarheit zu verschaffen - eine in Anbetracht der verklausulierten Sprache des Gesetzes an Hohn grenzende Empfehlung.
Am 11. Oktober, gerade einmal einen Monat nach dem 11.
September, stimmte der Senat einer Version des Gesetzes zu, die Bürgerrechtsexperten für noch weniger akzeptabel hielten als
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die dem Repräsentantenhaus vorgelegte Version, über die am
nächsten Tag abgestimmt werden sollte.
Der Bush-Regierung mißfielen die in der Vorlage für das
Repräsentantenhaus enthaltenen Einschränkungen, und so
arbeitete das Justizministerium mit dem Sprecher des
Repräsentantenhauses die ganze Nacht daran, sämtliche von den Ausschüssen des Hauses an die Vorlage angehängten
bürgerrechtlichen Schutzklauseln wieder daraus zu entfernen.
Die endgültige Version wurde am 12. Oktober um 3.45 Uhr
eingereicht. Als die Repräsentanten ein paar Stunden später zur Abstimmung über das Gesetz im Kongreß schritten, dachten sie, nun würde über die Vorlage abgestimmt werden, auf die sie sich am Vortag geeinigt hatten. Statt dessen stimmten sie über ein Gesetz ab, dem Justizminister John Ashcroft über Nacht die
letzten bürgerrechtlichen Zähne gezogen hatte. Nach Angaben
der Bürgerrechtsgruppe American Civil Liberties Union hat
kaum ein Kongreßabgeordneter vor der Abstimmung die
endgültige Version des Gesetzes auch tatsächlich gelesen - der ungeheuerlichste und verantwortungsloseste Vorgang in der
gesamten Geschichte des amerikanischen Kongresses.
Was das Gesetz tut? Es erlaubt der amerikanischen Regierung, all die zahllosen E-Mails, die ihr für vertraulich gehalten habt,
»abzufangen und nachzuverfolgen«. Wenn das so weitergeht,
könnt ihr das Wort »VERTRAULICH« getrost aus eurem
Rechtschreibprogramm streichen. Gleichfalls zur Überprüfung
freigegeben: Bankaufzeichnungen, Schularchive, die Liste der Bücher, die ihr und eure Kinder dieses Jahr in der Stadtbücherei ausgeliehen habt (oder wie oft ihr euch in der Bibliothek ins Internet eingeloggt habt) und eure privaten Einkäufe. Glaubt ihr etwa, ich übertreibe? Das nächste Mal, wenn ihr im
Wartezimmer eures Arztes sitzt oder in der Bank Schlange steht, müßt ihr unbedingt die neuen Vertraulichkeitsvorschriften lesen.
Irgendwo in dem juristischen Kauderwelsch werdet ihr auf einen neuen Warnhinweis stoßen, demzufolge euer Recht auf den
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Schutz eurer Daten nach den Big-Brother-Bestimmungen
unseres neuen Patriot Act geregelt ist.
Und das ist noch nicht alles. Dank der speziellen »Schnüffel und Spitzel«-Vorschriften des Patriot Act können
Bundesagenten eure Häuser und Wohnungen durchsuchen, ohne
- stellt euch das mal vor - euch jemals sagen zu müssen, daß sie da waren!
Einer der wichtigsten Artikel der amerikanischen Bill of
Rights ist der 4. Verfassungszusatz. Wir Amerikaner schätzen unser Recht auf Privatsphäre und lieben es, in einem Land zu leben, in dem der freie Meinungsaustausch gefördert wird. Aus diesem Grund verlangt die Verfassung der Vereinigten Staaten für eine Hausdurchsuchung einen Durchsuchungsbefehl, für
dessen Ausstellung es eines verdammt guten Grundes bedarf.
Doch jetzt gibt es die neue Anordnung von Ashcrofts Gnaden,
die unser liebgewonnenes Verständnis von Heim und Herd
kurzerhand außer Kraft setzt. Ashcrofts Gesetz ist kein
patriotischer Akt. Weder meine Geschichtslehrerin in der 7.
Klasse, Schwester Mary Raymond, noch unsere Gründungsväter
(am allerwenigsten Jefferson) würden es mir verzeihen, wenn
ich hier nicht auf eine schlichte Tatsache hinwiese: Wenn ihr den Herrschenden erlaubt, in eurem Leben herumzuschnüffeln
und eure »Privatsphäre« zu verletzen, dann könnt ihr euch die Hoffnung abschminken, daß ihr in einer freien Gesellschaft lebt.
Statt vor einem ordentlichen Gericht einen hinreichenden
Tatverdacht belegen zu müssen, erhalten Ashcrofts Agenten ihre geheimen Durchsuchungsbefehle von einem geheimen Gericht
(dem 1978 gegründeten, »regierungseigenen«
Foreign Intelligence Surveillance Court, kurz FISA). Dort
reicht es, wenn die Feds auftauchen, die Zauberformel »aus
gehe imdienstlichen Gründen« aussprechen, und schon
bekommen sie von ihrem Geheimgericht jeden beliebigen
Antrag abgestempelt. Dazu kommen noch die, laut
Zeitungsberichten, über 170 im Jahr 2002 ausgestellten
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»Notfall‹‹-Durchsuchungsbefehle (in den 23 Jahren davor
wurden insgesamt nur 47
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