Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
artikulieren.
»Ist noch jemand hier, der mich nicht für einen richtigen Menschen hält?«
Er sieht die dreißig Journalisten an, von denen tatsächlich einige die Hand heben, und zwar nicht nur die Frau mit der hohen Frisur und der Zwischenrufer aus der letzten Reihe. Es sind gut zehn Hände. Meinen die das wirklich, oder wollen sie ihn provozieren wie ein Matador, der mit dem roten Umhang wedelt?
»Monet!«, ruft er. »Seurat! Wenn man direkt vor ihren Bildern steht, sieht man nur lauter kleine Farbtupfer. Aber aus der Entfernung erkennt man ein Meisterwerk.« Auf den Leinwänden erscheint tatsächlich ein Monet, der aber Cams Aussage nicht etwa untermauert, sondern seinen Vergleich nur noch gekünstelter wirken lässt. »Sie sind Kleingeister. Ihnen fehlt die Distanz!«
»Sie scheinen sich ja sehr wichtig zu nehmen«, sagt jemand.
»Wer hat das gesagt?« Er sieht ins Publikum. Niemand meldet sich. »Ich nehme alle wichtig, die in mir sind.«
Roberta will ihm das Mikrofon abnehmen, doch er stößt sie beiseite. »Nein!«, ruft er. »Sie wollen die Wahrheit wissen? Ich sage Ihnen die Wahrheit!«
Und plötzlich prasseln die Fragen nur so auf ihn ein.
»Hat man Ihnen die Antworten vorgegeben?«
»Warum genau hat man Sie gemacht?«
»Wissen Sie, wie die Wandler alle heißen?«
»Träumen Sie ihre Träume?«
»Haben Sie gespürt, wie Sie umgewandelt wurden?«
»Wenn Sie aus den Ungewollten gemacht wurden, warum sollten Sie dann besser sein?«
Die Fragen kommen so schnell und aggressiv, dass Cam meint, sein ganzer Verstand würde durchgerüttelt. Er weiß nicht, auf welche Frage er zuerst antworten soll – wenn er überhaupt eine beantworten kann.
»Welche gesetzlichen Rechte sollte ein Designermensch haben?«
»Können Sie sich fortpflanzen?«
»Sollte er sich fortpflanzen?«
»Lebt er überhaupt?«
Er kann seine Atmung nicht mehr kontrollieren. Er kann seine Gedanken nicht mehr ordnen. Er kann nicht mehr klar sehen. Die Stimmen ergeben keinen Sinn, Cam sieht nur noch Teile, nicht mehr das große Ganze. Gesichter. Ein Mikrofon. Roberta packt ihn, will ihn dazu bringen, dass er sie ansieht, aber er kann nicht aufhören, den Kopf zu schütteln.
»Rotes Licht! Bremspedal! Backsteinwand! Stifte hinlegen!« Er atmet tief und zitternd ein. »Stopp?« Es ist eine flehende Bitte an Roberta. Sie kann dem ein Ende setzen. Sie kann alles.
»Vielleicht ist er nicht stabil genug montiert«, sagt jemand, und alle anderen lachen.
Cam nimmt das Mikrofon noch einmal und presst die Lippen dagegen. Es kreischt. Es kratzt.
»Ich bin mehr als die Teile, aus denen ich bestehe!
Ich bin mehr!
Ich bin …
Ich …
Ich …«
Eine einzelne Stimme stellt ruhig die schlichte Frage: »Und wenn nicht?«
»…«
»Das ist im Moment alles«, erklärt Roberta der brabbelnden Schar.
»Danke, dass Sie gekommen sind.«
Er weint und weint und kann gar nicht mehr aufhören. Er weiß nicht, wo er ist, wo Roberta ihn hingebracht hat. Er ist nirgends. Es gibt nur noch sie beide auf der Welt.
»Schsch.« Sie wiegt ihn sanft vor und zurück. »Es ist alles gut. Alles wird wieder gut.«
Aber es hilft ihm nicht dabei, sich zu beruhigen. Er will, dass die Erinnerung an diese abweisenden Gesichter verschwindet. Kann sie die nicht aus seinem Gedächtnis schneiden? Sie ersetzen durch die willkürlichen Gedanken eines willkürlichen Wandlers? Kann sie das für ihn tun? Bitte?
»Das war nur der erste Gruß aus einer Welt, die sich erst noch an dich gewöhnen muss«, sagt Roberta. »Beim nächsten Mal geht es besser.«
Beim nächsten Mal? Wie soll er ein nächstes Mal überleben?
»Schiffbruch! Rette sich, wer kann«, erklärt er.
»Nein.« Roberta hält ihn noch fester. »Das ist nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang, und ich weiß, du wirst das schaffen. Du musst dir nur ein dickeres Fell zulegen.«
»Dann transplantiere mir eins!«
Sie kichert, als wäre das ein Witz, und steckt ihn an damit und er muss immer lauter lachen, und plötzlich hat er, inmitten seiner Tränen, einen Lachanfall, der ihn gleichzeitig wütend macht. Er weiß nicht einmal, warum er lacht, aber er kann nicht aufhören, genauso wenig, wie er aufhören konnte zu weinen.
Endlich bekommt er sich wieder in den Griff. Er ist völlig erschöpft. Er will nur noch schlafen. Daran wird sich so schnell nichts ändern.
PRESSEMELDUNG
Haben Sie je darüber nachgedacht, wem die Umwandlung alles hilft? Das sind nicht nur die Empfänger des so dringend benötigten
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