Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
der Öffentlichkeit positiv beeinflussen kann. Der Vorurteile abbauen kann.«
Er sieht sie an, doch sie lehnt seine Bitte ab, ehe er sie überhaupt aussprechen kann. »Nein, das geht nicht. Ich bin deine Betreuerin. Das funktioniert nicht. Was du brauchst, ist ein hübscher kleiner Planet, der um dich herumkreist …«
Die Idee fasziniert ihn. Ja, er braucht mehr als eine Betreuerin wie Roberta. Er sehnt sich nach Bindung. Seit seiner Erschaffung ist er niemandem in seinem Alter begegnet. Sein Alter, hat er beschlossen, ist sechzehn, das lässt sich nicht widerlegen. Jemanden an seiner Seite zu haben, eine Person, die geboren wurde, nicht gemacht, würde ihn dem Menschsein einen Schritt näher bringen. Roberta hat richtig kalkuliert. Der Gedanke weckt seine Lebensgeister. Wieder greift er nach dem Infusionsschlauch.
»Cam, bitte nicht«, fleht ihn Roberta an. »Bitte, mach das nicht.«
»Keine Sorge.« Er löst den Schlauch und steht auf, zum ersten Mal seit Wochen. Seine Gelenke schmerzen fast so schlimm wie die Nähte. Er geht zum Fenster und blickt hinaus. Er hat nicht einmal gewusst, welche Tageszeit ist. Der Abend dämmert, die untergehende Sonne verbirgt sich knapp über dem Horizont hinter einer Wolke. Das Meer schimmert, und der Himmel leuchtet in allen möglichen Farben. Hat Roberta recht? Hat Cam ein Anrecht auf diese Welt wie jeder andere Mensch auch? Oder gar noch ein größeres?
»Selbstbestimmung«, beschließt er. »Ich werde ab jetzt meine eigenen Entscheidungen treffen.«
»Natürlich, natürlich«, versichert Roberta. »Und ich werde dich beraten.«
»Beraten, nicht befehligen. Keine Kontrolle. Ich will entscheiden, wann ich was tue. Und ich will mir meinen Gefährten selber aussuchen.«
Roberta nickt. »Einverstanden.«
»Gut. Ich habe Hunger«, erklärt er. »Sag ihnen, sie sollen mir ein Steak bringen.« Dann überlegt er es sich anders. »Nein, sie sollen mir Hummer bringen.«
»Was immer dich glücklich macht, Cam.« Und Roberta läuft los, um ihm seinen Wunsch zu erfüllen.
18.
Risa
Risa wacht mitten in der Nacht auf, weil sie jemanden die Rampe zur BarMac heraufpoltern hört. Sie wünschte, dieser nächtliche Besuch wäre nicht für sie, aber bestimmt handelt es sich um einen medizinischen Notfall.
Kiana zieht den Vorhang zur Seite und stürzt in ihr Abteil. »Risa, es sind gerade ein paar Kids reingekommen. Es ist schlimm, richtig schlimm.«
Kiana ist sechzehn und hat Nachtschicht auf der Krankenstation. Sie ist gern ein bisschen theatralisch, bläht Probleme bis zur Unkenntlichkeit auf. Da sie aus einer Arztfamilie kommt, will sie mit allen Mitteln beweisen, was für eine hervorragende Sanitäterin sie ist. Ihre Übertreibungen dienen daher meist dem Ziel, sich im Ruhm zu sonnen, wenn sie einen Notfall erfolgreich versorgt hat. Dass Kiana nun Risa holt, statt die Lorbeeren allein einzuheimsen, deutet allerdings darauf hin, dass die Lage wirklich ernst ist.
»Ein paar von den Kids haben an einer Triebwerksturbine rumhantiert«, berichtet Kiana, »und da ist das Ding heruntergekommen …«
Risa zieht sich aus dem Bett in den Rollstuhl. »Was haben die denn mitten in der Nacht an einer Triebwerksturbine zu schaffen?«
»Ich glaube, es war so eine Art Mutprobe.«
»Nicht zu fassen.« Die Hälfte der Verletzungen, mit denen es Risa zu tun hat, sind auf selbstzerstörerisches Verhalten oder einfach nur auf Dummheit zurückzuführen. Sie fragt sich oft, ob das in der Natur der Yolos liegt oder ob es in der normalen Welt auch so läuft.
Als sie im Sanitätsflieger ankommt, sind alle Helfer, ob sie nun Schicht haben oder nicht, schon da. Ein paar von ihnen, die auch nach ihrem siebzehnten Geburtstag geblieben sind, haben Erfahrung, doch die meisten sind noch jung und haben gerade erst gelernt, kleinere Verletzungen zu behandeln. Risa macht der Anblick von Blut keine Angst mehr. Was ihr Angst macht, sind ihre Grenzen, und als sie in die Krankenstation rollt, erkennt sie auf Anhieb, dass sie hier völlig überfordert ist.
In der Ecke sitzt stöhnend und mit schmerzverzerrtem Gesicht ein Junge mit offenbar ausgekugelter Schulter. Um ihn kümmert sich allerdings niemand, denn dem Jungen, der auf dem Tisch liegt, geht es deutlich schlechter. In seiner Seite klafft eine riesige Wunde, durch die Risa mindestens eine Rippe sehen kann. Er wimmert und zittert am ganzen Körper. Mehrere Sanitäter bemühen sich verzweifelt, die Blutung zu stillen, indem sie Druck auf die wichtigsten
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