Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
verletzen diese Worte, und Miracolina bereut sie sofort. Sie darf nicht herzlos werden, sondern muss über den Dingen stehen.
»Es tut mir leid. Es liegt ja nicht an dir, mir gefällt nur nicht, was sie mit dir anstellen. Wenn du meine Freundin sein willst, versuch es wieder, wenn du gerade nicht den Auftrag dazu hast.«
»Gut, in Ordnung«, erwidert Jackie. »Aber Freundinnen hin oder her: Ich soll dir beim Programm helfen, ob es dir gefällt oder nicht.«
Nachdem das geklärt ist, kehrt Jackie zu ihren Freundinnen zurück, behält jedoch Miracolina im Auge, solange sie im Zimmer ist.
Timothy, mit dem sie entführt wurde, ist auch da. Er steht mit einem Jungen zusammen, der ihm wohl auch zugeteilt wurde.
Sie unterhalten sich bereits wie dicke Freunde. Timothy macht »das Programm« offenbar bereitwillig mit. Da er ohnehin nicht so scharf darauf war, umgewandelt zu werden, war seine Entprogrammierung wohl mit einem schlichten Kleiderwechsel erledigt.
»Warum bist du nur so … so seicht?«, fragt sie, als sie ihn später allein erwischt.
»Wenn du das so siehst.« Er strahlt übers ganze Gesicht, als hätte man ihm gerade ein kleines Hündchen zum Spielen geschenkt. »Wenn es seicht ist, dass ich ein eigenes Leben haben will, dann will ich nicht tiefer sein als ein Planschbecken!«
Entprogrammierung! Miracolina wird allein bei dem Gedanken daran schlecht. Sie verachtet Timothy. Wie kann einer seinen festen Glauben, den er sein Leben lang vertreten hat, einfach so gegen Rindfleisch und Sauerkraut eintauschen?
Jackie spricht sie an diesem Tag noch einmal an, nachdem Miracolina festgestellt hat, dass ihre »Freiheit« an einer verschlossenen Tür endet, die alle ehemaligen Zehntopfer in diesem Flügel des Landhauses festhält. »Der Rest ist noch nicht bewohnbar«, sagt Jackie. »Deshalb dürfen wir uns nur im Nordflügel aufhalten.«
Sie erklärt Miracolina, dass sie Unterricht erhalten, in dem sie lernen, sich anzupassen.
»Und was passiert, wenn jemand sich nicht anpasst?«, fragt Miracolina spöttisch.
Jackie antwortet nicht. Sie sieht Miracolina verständnislos an. Darüber hat sie wohl noch nie nachgedacht.
Schon wenige Tage später hat Miracolina die Nase voll vom Unterricht. Der Vormittag beginnt mit einer ausgedehnten Gruppentherapie, bei der mindestens eine Person in Tränen ausbricht und von den anderen dafür beklatscht wird. Miracolina sagt meist gar nichts, denn in der Gruppensitzung ist es verpönt, den Zehntopfergang zu verteidigen.
»Du hast ein Recht auf deine Meinung«, heißt es, wenn sie sich gegen ihre Entprogrammierung ausspricht. »Aber wir hoffen, dass du unseren Standpunkt am Ende einsiehst.« Was bedeutet, dass sie eben doch kein Recht auf eine Meinung hat.
Es wird auch Zeitgeschichte unterrichtet, ein Fach, das nur wenige Schulen im Lehrplan haben. Es geht um den Heartland-Krieg, das Umwandlungsabkommen und alles, was damit zu tun hat, bis zum heutigen Tag. Sie diskutieren über die Splittergruppen innerhalb der großen Religionen, die sich das menschliche Zehntopfer zu eigen gemacht haben und zu gesellschaftlich anerkannten »Zehntopfersekten« geworden sind.
»Diese Bewegungen sind nicht von unten gewachsen«, erklärt ihnen die Lehrerin. »Es begann in den reichen Familien – Manager und Großaktionäre riesiger Konzerne –, die der breiten Masse ein Vorbild sein wollten. Wenn sogar die Reichen die Umwandlung unterstützten, dann würden die anderen es auch tun. Die Zehntopfersekten waren Teil eines ausgeklügelten Plans, um die Umwandlung in der nationalen Psyche zu verankern.«
Miracolina kann nicht anders, sie meldet sich. »Entschuldigen Sie«, sagt sie. »Aber ich bin Katholikin und gehöre nicht zu einer Zehntopfersekte. Wie erklären Sie sich das?«
Sie hat erwartet, dass die Lehrerin erwidert: »Du bist die Ausnahme, die die Regel bestätigt«, oder etwas ähnlich Abgeschmacktes, doch sie tut nichts dergleichen. Stattdessen antwortet sie: »Hmm, das ist interessant. Ich wette, Lev würde gern mit dir darüber reden.«
Das ist für Miracolina die schlimmste Drohung, mit der sie ihr kommen konnte, und die Lehrerin weiß das. Die Worte bringen Miracolina zum Schweigen. Doch ihr Widerstand gegen den Widerstand ist im Hause wohlbekannt, und so wird sie zu einer Audienz mit dem Jungen gebeten, der nicht in die Luft ging.
Das Gespräch findet an einem Montagmorgen statt. Miracolina wird aus der unerträglichen Therapiegruppe geholt und in einen Bereich des
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