Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Flugzeugabsturz überlebt hat. Sie war eine erfolgreiche Läuferin, doch dafür sind meine Beine einfach nicht geschaffen. Eine Weile hat sie getrauert, weil sie ihren Traum von Olympia begraben musste, doch dann hat sie gemerkt, dass meine Beine tanzen können. Sie hat den Tango erlernt und eines Tages ist sie in Monaco einem Prinzen begegnet und ihm direkt in sein Herz getanzt. Die beiden haben geheiratet, und einmal im Jahr gibt das königliche Paar einen großen Ball. Der Höhepunkt des Balls ist der Tango mit ihrem Prinzen.
Mit jedem Wort, das sie schreibt, wächst Miracolinas Wut darüber, dass sie all dieser Möglichkeiten beraubt wurde.
Mein Herz ging an einen Wissenschaftler, der kurz vor der Entdeckung stand, wie man Sternenlicht nutzbar machen und alle Energieprobleme der Welt lösen kann. Er war dem Durchbruch so nah, doch dann erlitt er einen schweren Herzinfarkt. Dank mir hat er überlebt, sein Lebenswerk vollendet und die Welt für alle besser gemacht. Er hat sogar den Nobelpreis bekommen.
Ist es wirklich so abwegig, dass man sich ganz und gar hergeben will? Wenn in Miracolinas Herz solche Möglichkeiten stecken, warum sollte ihr das versagt bleiben?
Und mein Verstand – meine vielfältigen Erinnerungen an eine liebevolle Kindheit – ging an gepeinigte Seelen, die keine Erinnerungen dieser Art hatten. Und nun sind die vielen Verletzungen, die sie erlitten haben, dank dieses Teils von mir geheilt.
Miracolina gibt ihren Aufsatz ab, und der Lehrer, der vielleicht auf ihren Text besonders neugierig ist, liest ihn, während die anderen noch schreiben. Sie beobachtet ihn dabei, bemerkt den nachdenklichen Ausdruck auf seinem Gesicht. Sie weiß nicht, warum, aber es ist ihr schon immer wichtig gewesen, was ihre Lehrer von ihrer Arbeit halten. Sogar wenn sie sie nicht mochte. Als er fertig ist, kommt er zu ihr.
»Sehr interessant, Miracolina. Aber du hast etwas ausgelassen.«
»Was denn?«
»Deine Seele«, sagt er. »Wer bekommt deine Seele?«
»Meine Seele«, erklärt sie ihm voller Zuversicht, »erhält Gott.«
»Hmm …« Er streicht sich über den struppigen, grauen Schnurrbart. »Sie geht also an Gott, obwohl jeder Teil deines Körpers noch am Leben ist?«
Miracolina behauptet ihren Standpunkt. »Ich habe ein Recht, daran zu glauben, wenn ich es möchte.«
»Sicher. Aber ein Problem gibt es dabei. Du bist katholisch, stimmt’s?«
»Ja.«
»Und du möchtest freiwillig umgewandelt werden.«
»Na und?«
»Also … wenn deine Seele diese Welt verlässt, dann ist die freiwillige Umwandlung nichts anderes als ein Selbstmord mit Sterbehilfe. Und im katholischen Glauben ist Selbstmord eine Todsünde. Das bedeutet, dass du nach deinem Glauben in die Hölle kommst.«
Er schreibt eine Eins minus auf ihren Aufsatz und lässt sie mit ihrer Verärgerung allein. Das Minus ist wohl der ewigen Verdammnis ihrer Seele geschuldet.
25.
Lev
Miracolina hat keine Ahnung, wie tief ihre Hartnäckigkeit ihn trifft. Die meisten Kids haben Angst vor Lev oder sie bewundern ihn oder beides – aber Miracolina ist weder eingeschüchtert noch ehrerbietig. Sie hasst ihn, nicht mehr und nicht weniger. Das dürfte ihn nicht weiter beunruhigen. An Hass hat er sich gewöhnt, denn wie sein Bruder Marcus gesagt hat, bemitleidet die Öffentlichkeit nicht nur den armen fehlgeleiteten kleinen Lev, sondern sie verabscheut auch das »Monster«, das aus ihm geworden ist. Aber hier, in Haus Cavenaugh, spielt das alles keine Rolle, denn hier ist er wie ein Gott. Er könnte das als eine Art abgedrehten Scherz abtun, doch Miracolina ist die Nadel, die die Spaßblase zum Platzen bringt.
Seine nächste Begegnung mit ihr findet in der folgenden Woche statt, auf einem Ostertanz. Zehntopfer sind bekanntermaßen völlig unfähig, Umgang mit dem anderen Geschlecht zu pflegen. Da sie wissen, dass Beziehungen dieser Art in ihrer begrenzten Zukunft keine Rolle spielen, kümmern sich Zehntopfer und ihre Familien nicht weiter um dieses Thema, ja, es wird sogar heruntergespielt, da es Sehnsüchte wecken könnte, die einem Zehntopfer nicht zustehen.
»Die Kids sind alle unglaublich gescheit«, ruft Cavenaugh auf einem der wöchentlichen Mitarbeitertreffen, »aber sie haben die sozialen Fähigkeiten von Sechsjährigen.« Diese Worte treffen ziemlich genau, wie es auch um Lev an seinem Zehntopfertag bestellt war, und er ist sich durchaus nicht sicher, ob er seither viel weitergekommen ist. Bis heute hat er sich noch nie mit einem Mädchen
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