Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
intoleranter ist, als sie dachte.
Vielleicht wurde mir dieser Weg auferlegt, um mich zu demütigen , denkt sie. Damit ich einsehe, dass ich hassen kann wie jeder andere auch.
An diesem ersten Tag versuchen sie Miracolina milde zu stimmen, indem sie ihr ein bequemes Zimmer geben, das besser ist als die meisten anderen im Haus.
»Hier kannst du dich ausruhen, bis die Nachwirkungen der Betäubung abgeklungen sind«, sagt eine mollige Frau, die ihr auch das Essen bringt, Rindfleisch und Sauerkraut, sowie ein hohes Glas mit duftendem Wurzelbier. »Saint Patrick’s Day«, erklärt sie das Festmahl freundlich. »Iss, Liebes. Wir haben noch mehr, wenn du einen Nachschlag haben möchtest.« Noch so ein Versuch, sie rumzukriegen. Miracolina isst, weigert sich aber, es zu genießen.
In ihrem Zimmer gibt es zu ihrer Unterhaltung Filme und Bücher. Miracolina muss lachen, denn so wie im Minibus zum Ernte-Camp nur heitere Familienfilme angeboten wurden, hat auch diese Auswahl ein klares Ziel. Alle Filme handeln von Kindern, die schlecht behandelt werden, sich aber befreien können, oder die sich in einer kinderfeindlichen Welt durchschlagen müssen. Von Dickens bis Salinger ist alles da – als hätte Miracolina Roselli etwas mit Oliver Twist gemein.
Die Schubladen sind mit farbenfrohen Kleidern gefüllt, alle in ihrer Größe. Bei dem Gedanken, dass man ihre Maße genommen und die Garderobe vorbereitet hat, während sie bewusstlos war, schüttelt es Miracolina. Die weiße Zehntopferkleidung ist zwar schmutzig geworden, aber sie wird den Leuten nicht den Gefallen tun, sich umzuziehen.
Schließlich kommt ein glatzköpfiger Mann mittleren Alters mit einem Klemmbrett und einem Namensschildchen, auf dem nur »Bob« steht.
»Ich war ein angesehener Psychiater, bis ich mich gegen die Umwandlung ausgesprochen habe«, erzählt ihr Bob, nachdem sie sich bekannt gemacht haben. »Das Berufsverbot war aber im Grunde ein Segen, denn so bin ich hier hergekommen, wo ich wirklich gebraucht werde.«
Miracolina hat die Arme verschränkt und reagiert nicht. Sie weiß schon, worauf das alles hinausläuft. Man bezeichnet es als »Entprogrammierung«, ein freundlicher Ausdruck für das Ersetzen der einen Gehirnwäsche durch eine andere.
» Früher waren Sie angesehen, was bedeutet, dass Sie es heute nicht mehr sind«, sagt sie. »Ich habe auch keinen Respekt vor Ihnen.«
Nach einem kurzen psychologischen Test, den sie nicht besonders ernst nimmt, seufzt Bob und fährt mit einem Klicken die Mine seines Kugelschreibers ein. »Du wirst auch noch begreifen, dass wir uns wirklich um dich sorgen und möchten, dass du dich gut entwickelst.«
»Ich bin aber keine Topfpflanze!« Als sich die Tür hinter ihm schließt, wirft sie ihm das Glas mit dem abgestandenen Wurzelbier hinterher.
Schnell merkt Miracolina, dass die Tür nicht abgeschlossen ist. Ist das auch ein Trick? Sie geht hinaus und erkundet die Flure des Landhauses. Trotz ihrer Wut über die Entführung ist sie neugierig, was hier vor sich geht. Wie viele Kinder wurden noch ihrem Zehntopfergang entrissen? Wie viele Entführer gibt es? Wie stehen die Fluchtchancen?
Wie sich herausstellt, bewohnen jede Menge Kids die Schlafräume und Gemeinschaftsbereiche. Sie sind damit beschäftigt, die eigentlich irreparablen baulichen Schäden zu reparieren und den Verfall des Landhauses aufzuhalten. Außerdem findet Unterricht statt, der von Bob-ähnlichen Leuten abgehalten wird.
Miracolina schlendert in einen Gemeinschaftsraum mit durchhängendem Boden und einem Billardtisch, den man mit einem untergelegten Holzstück in die Waagrechte gebracht hat. Ein Mädchen erhebt sich und gesellt sich zu ihr. Auf ihrem Namensschild steht »Jackie«.
»Du musst Miracolina sein.« Jackie nimmt ihre Hand und schüttelt sie, da Miracolina keine Anstalten macht. »Ich weiß, es ist schwer am Anfang, aber ich bin mir sicher, wir werden super Freundinnen.« Jackie sieht aus wie das typische Zehntopfer, so wie alle anderen hier auch: Sie strahlt vor Sauberkeit und scheint über den weltlichen Dingen zu stehen. Obwohl niemand Weiß trägt, können die Kids ihre Vergangenheit nicht leugnen.
»Bist du mir zugeteilt worden?«, fragt Miracolina.
Jackie zuckt entschuldigend mit den Schultern. »Ja, sozusagen.«
»Danke für deine Ehrlichkeit, aber ich mag dich nicht und ich will auch nicht deine Freundin sein.«
Jackie, die keine ehemals renommierte Psychiaterin ist, sondern ein normales dreizehnjähriges Mädchen,
Weitere Kostenlose Bücher