Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Mann ist einfach zu theatralisch.
Der Junge schluchzt, und das Mädchen versucht ihn zu beruhigen. »Es ist alles in Ordnung, Timothy«, sagt sie. »Egal, was passiert, es wird alles gut.«
Lev setzt sich ihnen gegenüber. Ihre Furcht verunsichert ihn. Ihm ist klar, dass er den beiden Zuversicht und Trost spenden muss, aber zwei verängstigten Entführungsopfern gegenüberzusitzen ist etwas anderes, als von Ex-Zehntopfern angehimmelt zu werden.
Cavenaugh ist nicht mehr da, doch zwei seiner Angestellten stehen bereit. Lev schluckt und bemüht sich, das Zittern seiner Hände in den Griff zu bekommen, indem er sich an die Armlehnen seines Stuhls klammert.
»Gut, Sie können ihnen die Augenbinden abnehmen.«
Die Augen des Jungen sind verweint. Das Mädchen sieht sich rasch prüfend um.
»Es tut mir leid, dass wir euch so behandeln mussten«, sagt Lev. »Wir wollten nicht riskieren, dass ihr verletzt werdet, und ihr solltet auch nicht erfahren, wo wir euch hinbringen. Es war die einzige Möglichkeit, euch zu retten.«
»Uns zu retten?«, faucht das Mädchen. »So nennst du das?«
Lev bemüht sich vergeblich, den anklagenden Ton in ihrer Stimme zu überhören. Er zwingt sich, den Blickkontakt mit ihr zu halten, so wie Cavenaugh es immer tut, und hofft, dass es bei ihr als Zuversicht ankommt.
»Na ja, es kommt dir im Moment vielleicht nicht so vor, aber, ja, genau das haben wir getan.«
Das Mädchen starrt ihn düster und trotzig an, doch der Junge schnappt nach Luft und reißt die feuchten Augen auf.
»Du bist das! Du bist das Zehntopfer, das zum Klatscher geworden ist! Du bist Levi Calder!«
Lev lächelt ihn an. Er macht sich nicht die Mühe, seinen Nachnamen zu korrigieren. »Ja, aber meine Freunde nennen mich Lev.«
»Ich bin Timothy!«, erwidert der Junge. »Timothy Taylor Vance. Und das ist Ma… Ma… mir fällt dein Name nicht mehr ein, aber er fängt mit einem M an, oder nicht?«
»Mein Name geht euch gar nichts an.«
Lev sieht auf dem kleinen Spickzettel nach, den er bekommen hat. »Du bist Miracolina Roselli. Freut mich, dich kennenzulernen, Miracolina. Nennt man dich Mira?« Ihr unverändert starrer Blick sagt ihm unmissverständlich, dass dem nicht so ist. »Also gut, Miracolina.«
»Wer gibt euch das Recht?« Ihre Worte klingen fast wie ein Knurren.
Lev zwingt sie erneut dazu, ihn anzusehen. Sie weiß, wer er ist, aber sie hasst ihn. Verachtet ihn. Er hat diesen Blick schon gesehen, aber hier überrascht er ihn.
»Vielleicht hast du mich nicht verstanden.« Lev ist ein wenig verärgert. »Wir haben dich gerade gerettet.«
»Nach wessen Definition ›gerettet‹?«
Einen Augenblick, nur einen kurzen Augenblick lang, sieht er sich selbst durch die Augen des Mädchens. Und ihm gefällt nicht, was er sieht.
»Ich bin froh, dass ihr hier seid.« Er bemüht sich, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Wir unterhalten uns später noch.« Dann gibt er den Erwachsenen ein Zeichen, die beiden wegzuführen.
Gute zehn Minuten lang bleibt Lev im Tanzsaal sitzen. Etwas an Miracolinas Verhalten kommt ihm beunruhigend bekannt vor. Er versucht sich daran zu erinnern, wie Connor ihn an seinem Zehntopfertag aus dem Auto gezogen hat. War er auch so aggressiv? So unkooperativ? Er hat diesen Tag fast völlig ausgeblendet. Wann wurde ihm klar, dass Connor kein Feind war?
Er wird sie überzeugen. Das muss er. Alle ehemaligen Zehntopfer knicken irgendwann ein. Die Gehirnwäsche, die Programmierung muss rückgängig gemacht werden.
Aber was ist, wenn dieses Mädchen eine Ausnahme ist? Was dann? Plötzlich kommt ihm die ganze Rettungsaktion, die er für großartig und glorreich gehalten hat, unbedeutend vor. Es ist ein Eingriff in die Privatsphäre.
24.
Miracolina
Miracolina, die geboren wurde, um das Leben ihres Bruders zu retten und an Gott zurückgegeben zu werden, wird diese Missachtung ihres geheiligten Schicksals nicht hinnehmen, wird sich nicht in das profane Leben eines Flüchtlings fügen. Sogar ihre Eltern sind am Ende schwach geworden, wollten ihren Pakt mit Gott brechen und sie vor dem Zehntopfergang retten. Sind sie jetzt wohl froh, dass man sie eingefangen hat? Dass man ihr das Mysterium des geteilten Zustands vorenthält und sie zu einem Leben als vollständiger Mensch zwingt?
Und zu allem Überfluss muss sie auch noch diesen Jungen ertragen, den leibhaftigen Teufel. Miracolina neigt nicht zu Hass oder Vorurteilen, aber als sie ihm gegenübersitzt, muss sie feststellen, dass sie viel
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