Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Fragen plötzlich auftauchen«, sagt er. »Man wird wütend und kann mit dieser Wut nicht umgehen. Ja, ich bin zum Klatscher geworden, aber nur, weil ich so unschuldig war, dass ich nicht wusste, wie schuldig ich mich machen würde.«
Er spricht nun sehr eindringlich und seine Augen sind feucht. Er spielt ihr nichts vor, das merkt Miracolina. Es ist ihm ernst. Vielleicht sagt er sogar mehr, als er vorhatte. Sie fragt sich, ob sie ihn falsch eingeschätzt hat, und ärgert sich sofort wieder über sich selbst.
»Du glaubst, ich bin wie du, aber das stimmt nicht«, setzt Miracolina ihm entgegen. »Ich komme nicht aus einer religiösen Schicht, in der Zehntopfer üblich sind. Meine Eltern haben es trotz unseres Glaubens getan, nicht wegen.«
»Aber man hat dir doch beigebracht, dass es deine Bestimmung ist, oder etwa nicht?«
»Meine Bestimmung war es, meinem Bruder durch meine Knochenmarkspende das Leben zu retten. Diesen Zweck habe ich erfüllt, noch bevor ich ein halbes Jahr alt war.«
»Und macht es dich nicht wütend, dass du nur auf der Welt bist, weil du jemand anderem helfen solltest?«
»Überhaupt nicht«, erwidert sie etwas zu schnell. Sie schürzt die Lippen, lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und rutscht ein wenig hin und her. Die Sitzfläche ist ihr zu hart. »Also gut, vielleicht bin ich hin und wieder wütend, aber ich verstehe, warum sie es getan haben. Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, hätte ich es genauso gemacht.«
»Einverstanden. Aber als dein Zweck erfüllt war, hätte dein Leben dann nicht dir gehören müssen?«
»Wunder sind das Eigentum Gottes.«
»Nein«, entgegnet er, »Wunder sind Geschenke Gottes. Wenn man sie als Eigentum bezeichnet, beleidigt man den Geist, in dem sie gegeben wurden.«
Sie öffnet den Mund, um zu antworten, doch sie hat darauf keine Antwort, denn er hat recht. Hol ihn doch der Teufel, er hat recht. Dabei dürfte er niemals recht haben!
»Wir reden weiter, wenn du darüber hinweg bist.« Er gibt einem wartenden Wachmann ein Zeichen, sie wegzubringen.
Am nächsten Tag wird eine zusätzliche Unterrichtseinheit in ihren Wochenplan aufgenommen, damit sie nicht so viel Zeit zum Nachdenken hat. Das Fach heißt »Kreativer Selbstentwurf«. Der Unterricht findet in einem Klassenzimmer statt, das früher eine Art Salon war und an dessen blätternden Wänden verblasste, mottenzerfressene Porträts hängen. Miracolina fragt sich, ob die trübseligen Gesichter auf den Gemälden den Unterricht hier gut finden, ob sie ihn ablehnen oder ob ihnen das alles egal ist.
»Ich möchte, dass ihr eine Geschichte schreibt.« Der Lehrer trägt eine bescheuerte Brille mit kleinen runden Gläsern. Eine Brille! So einen altertümlichen Gegenstand braucht niemand mehr in Zeiten von Laserbehandlungen und erschwinglichen Augentransplantationen. Eine Brille ist so ungewöhnlich, dass sie eine gewisse Arroganz ausstrahlt. Menschen, die freiwillig eine Brille tragen, halten sich wohl für etwas Besseres.
»Ich möchte, dass ihr eine Geschichte schreibt – eure Autobiografie. Aber ihr schreibt nicht über das Leben, das hinter euch, sondern über das, das vor euch liegt. Es ist die Lebensgeschichte, die ihr, sagen wir, in vierzig oder fünfzig Jahren schreiben würdet.« Der Lehrer wandert gestikulierend durch den Raum und kommt sich wahrscheinlich vor wie Plato oder ein anderer großer Philosoph. »Entwerft euch selbst. Beschreibt, wer ihr sein werdet. Ich weiß, das ist für euch alle sehr schwer. Ihr habt nie gewagt, an die Zukunft zu denken – aber nun könnt ihr es. Ich möchte, dass ihr das Schreiben auskostet. Lasst euren Gedanken freien Lauf. Viel Spaß!«
Selbstzufrieden setzt er sich hin und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Miracolina tippt ungeduldig mit dem Stift aufs Papier, während die anderen schreiben. Er will ihre Traumzukunft? Na gut. Sie wird den Leuten hier eine ehrliche Geschichte liefern, auch wenn es nicht das ist, was sie hören wollen.
Viele Jahre sind vergangen , schreibt sie, und meine Hände gehören einer Mutter, die ihre Hände bei einem Brand verloren hat. Sie hat vier Kinder. Sie tröstet sie, badet sie, kämmt ihnen das Haar, sie wechselt ihnen die Windeln, alles mit diesen Händen. Sie weiß meine Hände zu schätzen, ihr ist bewusst, wie kostbar sie sind. Einmal in der Woche geht sie für mich zur Maniküre, obwohl sie nicht weiß, wer ich war.
Meine Beine gehören einem Mädchen, das einen
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