Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Schritt für Schritt einer Befangenheit.
Kann er diesen Erwartungen gerecht werden? Hat er überhaupt eine Chance?
»Glauben Sie nicht, das ist … ein bisschen zu viel des Guten?«, fragt Lev.
»Wir mussten einsehen, dass wir diesen Kids, als wir sie dem Zehntopfergang entrissen haben, den Sinn ihres Lebens genommen haben, jene eine unumstößliche Sache, an die sie fest glaubten. Diese Lücke mussten wir zumindest vorübergehend füllen. Du warst der naheliegendste Kandidat.«
Zitate und Aussagen, die Lev zugeschrieben werden, zieren in Schablonenschrift die Wände, etwa: »Das ungeteilte Leben wertzuschätzen ist das höchste aller Ziele« oder: »Deine Zukunft gehört voll und ganz dir«. Das sind Ansichten, die er teilt, die ihm aber nie über die Lippen gekommen sind.
»Es muss ein merkwürdiges Gefühl sein, das Objekt einer solchen Verehrung zu sein«, räumt Cavenaugh ein. »Ich hoffe, du bist damit einverstanden, dass wir dein Image dazu genutzt haben, diesen Kindern zu helfen.«
Lev weiß nicht, ob er einverstanden ist oder nicht, ja er kann nicht einmal abschätzen, ob das alles klug ist. Wie soll man die Herrlichkeit eines Lichts beurteilen, wenn man selbst die Quelle ist? Ein Scheinwerfer kann ja die Schatten, die er wirft, auch nicht sehen. Lev bleibt nichts anderes übrig, als mitzuziehen und die Rolle eines spirituellen Vorbilds zu übernehmen. Das ist besser als vieles, was er bisher erlebt hat.
An seinem zweiten Tag in Haus Cavenaugh finden schon die ersten persönlichen Audienzen mit den ehemaligen Zehntopfern statt, immer nur ein paar pro Tag, damit es nicht zu viel für ihn wird. Er hört sich ihre Lebensgeschichte an und erteilt ihnen Ratschläge, genau so, wie er es auf seinen sonntäglichen Besuchen bei den inhaftierten Jugendlichen gehalten hat.
Für diese Kinder allerdings ist alles, was Lev sagt, göttlich inspiriert. Er könnte behaupten, der Nachthimmel sei rosa, und sie würden in seinen Worten eine mystische symbolische Bedeutung finden.
»Sie brauchen nur Bestätigung«, erklärt Cavenaugh, »und Bestätigung von dir ist das größte Geschenk für sie.«
Nach einer Woche hat sich Lev an seinen Tagesablauf gewöhnt. Die Mahlzeiten beginnen immer erst, wenn er eintrifft. Meist wird er gebeten, ein konfessionell nicht gebundenes Tischgebet zu sprechen. Den Vormittag verbringt er mit Audienzen und am Nachmittag hat er Zeit für sich allein. Cavenaugh und seine Mitarbeiter ermutigen ihn, seine Memoiren zu schreiben, was er für einen Vierzehnjährigen irrwitzig findet, aber sie meinen es wirklich ernst. Sogar sein Zimmer ist irrwitzig, ein königliches Gemach, das viel zu groß für ihn ist; es ist einer der wenigen Räume, die ein nicht vernageltes Fenster nach draußen haben.
Sein Zimmer ist überlebensgroß, sein Image ist überlebensgroß, und er kommt sich immer kleiner vor.
Darüber hinaus muss er bei jeder Mahlzeit seinem Porträt gegenübersitzen. Dem Lev, für den sie ihn halten. Er kann die Rolle natürlich spielen, aber aus den gemalten Augen, die ihm durch den Saal folgen, spricht eine stumme Anklage. Du bist nicht ich , sagen diese Augen. Du warst es nie und du wirst es nie sein. Trotzdem tauchen immer noch Blumen und Zettel und andere Gaben auf dem Kaminsims unter dem Bild auf. Lev wird klar, dass es mehr ist als nur ein Bild. Es ist ein Altar.
In der zweiten Woche wird er gebeten, Neuankömmlinge zu begrüßen, die ersten seit seiner Ankunft. Sie kommen frisch aus dem entführten Kleinbus und wissen nur, dass sie entführt und betäubt worden sind, aber nicht, von wem.
»Sie sollen, wenn wir sie entschleiern, als Erstes dich sehen«, erklärt ihm Cavenaugh.
»Warum? Damit sie auf mich geprägt werden wie Gänseküken?«
Cavenaugh stößt leicht genervt den Atem aus. »Wohl kaum. Für sie bist du der Einzige, der dem Zehntopfergang jemals entkommen ist. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche emotionale Wirkung dein Anblick auf ein Kind haben kann, das für dieses Schicksal auserkoren ist.«
Lev wird in den Tanzsaal geführt, der in einem traurigen Zustand ist und wohl nicht mehr gerettet werden kann. Wahrscheinlich, vermutet Lev, gibt es einen psychologischen Grund dafür, dass die Jugendlichen dort begrüßt werden, er fragt aber lieber nicht nach.
Als er eintrifft, sind die Neuankömmlinge schon da. Ein Junge und ein Mädchen. Man hat sie an Stühle gefesselt und ihnen die Augen verbunden, womit klar ist, was Cavenaugh mit »entschleiern« meint. Der
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