Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Sollte es auch.«
Lev ballt die Hände zu Fäusten, knurrt, macht kehrt, um aus dem Zimmer zu stürmen, tut es aber nicht. Stattdessen dreht er sich wieder zu ihr um, öffnet die Fäuste und hält ihr fast flehend die flachen Hände hin, als wären dort die Wundmale Christi zu sehen. Ja, er mag Blut an den Händen haben, aber zu sehen ist es nicht.
»Soll es immer so weitergehen?«, fragt er. »Du moserst und meckerst und machst allen anderen hier das Leben schwer? Mehr willst du aus deinem Leben nicht machen?«
»Nein«, antwortet sie. »Mein Leben war an meinem dreizehnten Geburtstag zu Ende. Von da an hätte ich zu anderer Leute Leben gehören sollen. Für mich war das in Ordnung. So wollte ich es haben. Und so will ich es immer noch. Warum ist das nur so schwer zu verstehen?«
Er sieht sie einen Augenblick zu lange an, und sie versucht sich vorzustellen, wie er als Zehntopfer gewesen ist, ganz in Weiß gekleidet. Sie hätte diesen Jungen vielleicht gemocht, als er noch rein und unbefleckt war. Aber der, der jetzt vor ihr steht, ist ein anderer Mensch.
»Tut mir leid.« Es tut ihr überhaupt nicht leid. »Bei der Entprogrammierung bin ich wohl durchgefallen.«
Sie dreht ihm den Rücken zu und wartet eine Weile. Sie weiß, dass er noch dasteht. Als sie sich wieder umdreht, stellt sie fest, dass dem nicht so ist. Er ist gegangen und hat die Tür so leise geschlossen, dass sie es nicht gehört hat.
27.
Lev
Lev sitzt wieder in einer Mitarbeiterbesprechung. Er weiß nicht, warum sie ihn dazu einladen. Cavenaugh hört sowieso nie auf das, was er sagt. In diesen Besprechungen hat er das Gefühl, dass er nur eine Art Haustier ist, ein Maskottchen. Diesmal allerdings will er sie unbedingt dazu bringen, dass sie ihm zuhören.
Noch ehe sie anfangen, kommt Lev Cavenaugh zuvor und ergreift das Wort, laut genug, dass jeder ihn hören kann. »Warum hängt das Bild wieder im Speisesaal?«, fragt er. »Es ist schon einmal beschädigt worden, warum wurde es wieder aufgehängt?« Die Frage sorgt für sofortige Ruhe.
»Ich habe es restaurieren und wieder aufhängen lassen«, erklärt Cavenaugh. »Es ist von unschätzbarem Wert, weil es den Ex-Zehntopfern Trost spendet.«
»Das sehe ich auch so!«, bekräftigt eine der Lehrerinnen. »Es lenkt ihre Aufmerksamkeit auf etwas Positives.« Sie verleiht ihrer Bemerkung mit einem unterwürfigen Nicken in Cavenaughs Richtung Nachdruck. »Ich finde es jedenfalls gut.«
»Also, ich finde es nicht gut«, erklärt Lev, der zum ersten Mal seine Gedanken laut ausspricht. »Man sollte mich nicht zu etwas Gottähnlichem machen. Ich sollte nicht auf einem Podest stehen. Dieses Bild, das Sie von mir entwerfen, bin ich nicht, bin ich nie gewesen.«
Im Raum herrscht Stille, und alle warten darauf, wie Cavenaugh reagieren wird. Er nimmt sich Zeit und sagt schließlich: »Wir haben hier alle eine Aufgabe. Deine ist sehr klar und sehr einfach: Du sollst den anderen Ex-Zehntopfern ein Vorbild sein, dem sie folgen können. Ist dir aufgefallen, dass sich die Kids die Haare wachsen lassen? Zuerst dachte ich, deine Frisur würde sie abschrecken, aber jetzt wollen sie alle aussehen wie du. Genau das brauchen sie in dieser wichtigen Phase ihres Lebens.«
»Ich bin aber kein Vorbild!«, schreit Lev. Er springt auf, ohne es überhaupt zu bemerken. »Ich war ein Klatscher. Ein Terrorist! Ich habe alles falsch gemacht!«
Cavenaugh bleibt ruhig. »Uns ist wichtig, was du richtig gemacht hast. Jetzt setz dich, damit wir mit der Besprechung beginnen können.«
Lev sieht sich am Tisch nach Unterstützung um. Die Mitarbeiter aber scheint sein Ausbruch höchstens an das zu erinnern, was er alles falsch gemacht hat – am besten vergisst man ihn schnell wieder. Dieselbe Wut, die ihn einst in einen Klatscher verwandelt hat, kocht in Lev hoch, aber er schluckt sie herunter, setzt sich und hält für den Rest der Besprechung den Mund.
Erst als die Mitarbeiter gegangen sind, nimmt Cavenaugh Levs Hand. Er will sie allerdings nicht schütteln, sondern dreht sie um und untersucht die Finger – oder genauer, die Fingernägel.
»Die machst du besser noch ein bisschen sauber, Lev«, sagt er. »Ich glaube, Sprühfarbe geht am besten mit Terpentin weg.«
28.
Risa
Risa bekommt keinen Ostertanz. Sie ist sich nicht einmal sicher, welcher Tag es ist; sie hat den Überblick verloren. Sie weiß auch nicht, wo genau sie sich befindet. Zuerst wurde sie von der Jugendbehörde in Tucson festgehalten, dann in einem
Weitere Kostenlose Bücher