Vollmondkuss
überfüllten Zug. Sie umfasste die Haltestange an der Rückenlehne des Sitzes gegenüber der Tür und blickte über die Köpfe der Fahrgäste hinweg nach vorn.
»Es tut mir leid«, sagte Rouben neben ihr. »Es war nicht meine Absicht, dich zu verletzen.«
»Schon gut«, sagte Jolin. »Dein Privatkram geht mich ja auch wirklich nichts an.«
Rouben schwieg, und Jolin spürte einen Kloß im Hals. Es konnte doch nicht sein, dass sie ständig irgendwo aneckte. Als ob das Leben sie plötzlich aufs Glatteis führen wollte! Unwillkürlich dachte sie an das, was Paula vor ein paar Tagen zu ihr gesagt hatte: Ich werde mich nie wieder von irgendjemandem im negativen Sinne beeinflussen lassen. Nicht von dir, nicht von Gunnar und auch von sonst niemandem.
Wenn Ma sich das mal nicht zu einfach vorstellte! Natürlich war so eine Unabhängigkeit außerordentlich verlockend. Jolin hätte sonst was darum gegeben, genau so zu sein. Unverletzbar und sicher, jede Situation zu jeder Zeit unter Kontrolle. Aber war es überhaupt das, was ihre Mutter damit gemeint hatte?
Jolin versuchte nicht mehr darüber nachzudenken. Was sich in ihrem Kopf abspielte, verwirrte sie nur. Außerdem war sie völlig anders als Paula. Wenn Jolin ihre Mutter betrachtete, wenn sie sah, wie fest und fröhlich die in ihrer Welt stand, dann wunderte es sie nicht, dass Paula eine solche Lebenstheorie entwickeln konnte. Und dennoch, etwas stimmte an diesem Bild nicht. Jolin kam nur nicht dahinter, was es war. Und so zog sie es vor, sich auf ihren Alltag zu besinnen und all die Dinge möglichst konzentriert und sorgsam zu erledigen, die sie unmittelbar selbst betrafen.
Zwei Tage später, am Mittwoch, als Jolin nach dem Englischkurs auf dem Weg zum Getränkeautomaten war, gab Anna ihr den Liebesroman zurück.
»Er ist toll«, sagte sie. »Du musst ihn unbedingt lesen.«
»Mal sehen«, sagte Jolin. Sie schob das Buch in ihre Tasche und kramte ihre kleine runde Geldbörse heraus.
Anna lachte. »Wozu hast du ihn dir denn gekauft, wenn er dich gar nicht interessiert?« erwiderte sie kopfschüttelnd. »Das passt überhaupt nicht zu dir, Jol.«
»Nenn mich doch nicht immer so«, sagte Jolin. Sie ging auf den Automaten zu, warf ein Fünzigcentstück ein und zog sich eine Apfelschorle.
»Wie jetzt?«, fragte Anna. Sie lehnte sich gegen den Automaten und versuchte Jolin direkt in die Augen zu sehen.
»Jol.«
»Aber ich habe dich immer so genannt«, erwiderte Anna. »Und bisher hast du nie etwas dagegen gehabt.«
Jolin spürte eine unwillkürliche, unbeherrschbare und eigentlich völlig grundlose Wut in sich aufsteigen. Sie steckte den Flaschenhals in den Öffnerschlitz und drückte den Kronkorken herunter. »Du hängst dich doch sowieso nur an mich, weil du scharf auf Rouben bist«, stieß sie hervor.
Anna schnappte nach Luft. »So siehst du das also.«
»Wie denn sonst?«, entfuhr es Jolin. »Seit Monaten hängst du mit Klarisse und den anderen herum und kümmerst dich nicht die Bohne um mich ...«
»Du könntest dabei sein«, fiel ihr Anna ins Wort. »Wenn du nur wolltest.«
»Ich verstehe dich nicht«, erwiderte Jolin. Sie konnte Anna nicht ansehen, sie war völlig gefangen in dieser Wut, die wie ein eiskaltes Feuer unter ihrem Herzen brannte. Jolin versuchte, dagegen anzukämpfen. Sie wollte nicht so sein, nicht so fühlen, aber je heftiger sie sich wehrte, desto weniger schien sie diese Wut unter Kontrolle zu bekommen.
»Was?«, fragte Anna. »Was verstehst du nicht?«
»Dass du so oberflächlich geworden bist, dich nur noch für Modekram, Kino und Tanzen interessierst«, stieß Jolin hervor. Sie setzte die Flasche an den Mund, verschluckte sich und fing an zu husten.
»Was soll daran denn, bitte schön, verkehrt sein?«, presste Anna hervor. »Wenn man Spaß hat? Wenn man sich amüsiert?«
»Und was ist mit deinen Träumen?« Jolin röchelte, sie beugte sich vornüber und hustete feine feuchte Punkte auf den dunklen Steinboden.
»Himmel nochmal.« Zögernd legte Anna eine Hand auf Jolins Rücken und begann sachte zu klopfen. »Es ist ja gut, Jol. Es ist ja gut. Beruhig dich doch erst mal.«
Hustend zog Jolin ein Taschentuch aus ihrer Jacke und presste es sich gegen den Mund. Sie spürte Annas warme Hand. Das sanfte, rhythmische Klopfen tat ihr gut, die Wut unter ihrem Herzen verflog.
»Was soll mit meinen Träumen sein?«, fragte Anna, nachdem Jolins Husten nachgelassen und sie einen weiteren Schluck Schorle getrunken hatte, um ihren Hals zu
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