Vollmondkuss
halbe Minute, so lange, bis sie ihren Blick senkte.
»Bis morgen dann«, sagte er kühl. Er machte einen Schritt zur Seite, bedeutete Jolin durch eine höfliche Geste, dass sie vorangehen sollte, und überließ Klarisse sich selbst.
Es herrschte eine angespannte Stille, bis Jolin und Rouben außer Hörweite waren. Jolin glaubte, die brennenden Blicke der Mädchen auf ihrem Rücken spüren zu können. Sie fühlte sich schrecklich. »Wenn du Pech hast, lädt sie dich wieder aus«, sagte sie leise.
»Und wenn schon«, erwiderte Rouben. »Davon abgesehen wird sie das nicht tun.«
Woher willst du das wissen?, wollte Jolin fragen, aber sie kannte die Antwort bereits. Klarisse würde die Sache sportlich sehen, und das hatte Rouben sofort durchschaut. Seine kleine Demütigung hatte sie wahrscheinlich nur angestachelt.
Schweigend liefen sie nebeneinander her zur U-Bahn-Station, und auch die ganze Fahrt über wechselten sie kein Wort. Sie setzten sich einander gegenüber, aber sie sahen sich nicht an. Rouben blickte zum Fenster, und Jolin starrte auf seine Knie, die in einer schwarzen Jeans steckten und unter dem Saum seines ebenso schwarzen Mantels hervorschauten. Sie dachte an Harro Greims und an das seltsam verblasste Bild einer wunderschönen Frau in dem altmodischen Rahmen, das er ihr zum Abschied geschenkt hatte und welches ihr so unheimlich gewesen war, dass sie es tags darauf im Stadtwald vergraben hatte.
»Mach dir keine Gedanken, Kind«, hatte Paula seinerzeit gesagt. »Er ist ein bettelarmer, einsamer Mann, der sein ganzes Leben von der großen Liebe geträumt hat.« Damit mochte sie durchaus recht gehabt haben. Heute klang es in Jolins Ohren sogar schlüssiger als damals, als sie gerade mal zwölf Jahre alt gewesen war. Und trotzdem. Es war keine Erklärung. Jedenfalls nicht dafür, dass Harro Greims ihr verboten hatte, ihn jemals wieder zu besuchen. Und auch nicht dafür, dass er ihr, ausgerechnet ihr, dieses Bild geschenkt hatte. Es war, als ob er Jolin damit ein Vermächtnis gegeben hätte, eine schwere Erblast, die sie nicht wirklich zu tragen imstande war. »Eines Tages wird sie dir vielleicht ihr Geheimnis verraten, wenn du alt genug bist, es zu verstehen«, hatte er ihr ins Ohr geraunt, während sie das Bild mit der schönen, geheimnisvollen Frau betrachtete. »Ich hoffe nur, dass du damit umzugehen weißt.«
Jolin spürte jetzt noch den eiskalten Schauder, der ihr bei diesen Worten über den Rücken gekrochen war.
»Alles okay?«, fragte Rouben.
»Was?« Jolin schrak auf. Sie sah ihn an und nickte und schaute rasch wieder weg. »Ja, schon.«
Du musst ihn fragen, dachte sie. Frag ihn doch einfach. Aber irgendwie wollte sie es gar nicht so genau wissen.
Jolin fiel gleich auf, dass etwas anders war als sonst. Es duftete nicht nach Essen, und in der Küche stand immer noch das schmutzige Frühstücksgeschirr auf dem Tisch.
»Was ist los, Ma?«, rief Jolin. Sie nahm die Baskenmütze ab und hängte ihre Jacke an die Garderobe. »Ma, wo bist du?« Sie lief ins Wohnzimmer, schaute ins Bad und ins Schlafzimmer. »Maaa?!« Doch dort war sie nicht. Und weder auf dem Küchentisch noch auf der kleinen Kommode in der Diele hatte ein Zettel gelegen. Paula schrieb immer Zettel, wenn sie wegging, in dieser Hinsicht war sie hundertprozent zuverlässig. »Mal«, schrie Jolin. Einem plötzlichen Impuls folgend, rannte sie auf ihr Zimmer zu. Sie drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf.
Paula Johansson saß leichenblass und völlig reglos auf dem Stuhl neben dem Fenster und starrte auf etwas Braungraues, das vor ihren Füßen am Boden lag.
»Ma, was ist los? Was machst du hier? Ist irgendwas mit Pa?« Mit hastigen Schritten war Jolin bei ihr. Fast stolperte sie über das Braungraue, das sie bisher nur beiläufig wahrgenommen hatte, und erkannte erst jetzt, was es war: ein kleines Tier, so groß wie eine Ratte, mit spitzem Gesicht, langen Zähnen und samtenen Flügeln. Es war eine Fledermaus, und sie war tot.
»Was ist passiert?«, kreischte Jolin. »Warum sagst du nichts?« Sie packte ihre Mutter bei den Schultern und schüttelte sie. »Hat sie dir etwas getan? Hat sie dich gebissen?«
»Gebissen?«, wiederholte Paula und schüttelte träge den Kopf. »Nein. Ich habe ... Ich wollte das nicht«, fing sie an zu stammeln. »... Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie in der Gardine hängt.«
»Sie hing in der Gardine?«, sagte Jolin ungläubig. »Diese Fledermaus?«
Paula nickte. Sie umfasste Jolins
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