Vollmondkuss
brachte sie einfach nicht über die Lippen. Stattdessen starrte sie auf die Logarithmen über Roubens Fingerkuppen. Hatte Harro Greims nicht auch immer so sauber gefeilte Nägel gehabt? Jolin versuchte sich das Aussehen des alten Mannes ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber es blieb verschwommen. Es war zu lange her, und außerdem war sie damals fast noch ein Kind gewesen.
»Was ist mit dir?«, fragte Rouben. »Warum antwortest du nicht?«
»W-was?« Die Chilischote rutschte in ihren Hals zurück. Jolin fing an zu husten. Nicht schon wieder, dachte sie. Nicht vor ihm. Aber der Reiz ließ sich nicht unterdrücken.
»Hey«, sagte Rouben leise, dann sprang er auf. »Ich hol dir ein Glas Wasser. Hier gibt es doch bestimmt einen Brunnen.«
Einen Brunnen? Was für ein verrückter Einfall! Jolin presste sich die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. Klopf mir doch einfach auf den Rücken, dachte sie. Sie spürte sein Zögern, doch dann war da plötzlich seine Hand zwischen ihren Schulterblättern. Eine unmittelbare Hitze durchflutete die Wirbel bis in ihren Nacken hinauf. Von einer Sekunde auf die andere war das Brennen in ihrer Kehle verschwunden. Rouben zog seine Hand zurück, und Jolin schnappte nach Luft.
»Alles okay?«, fragte er.
»Ja.« Jolin nickte. »Ich glaube, ich muss jetzt nach Hause.« Sie stand von ihrem Platz auf und war nun wieder auf Augenhöhe mit Rouben, vermied es aber, ihm direkt ins Gesicht zu sehen.
»Du glaubst?«
»Ja. Ich meine, ich muss ... Meine Mutter, sie ...« Es war ein schreckliches Gestammel, genauso peinlich wie der Hustenanfall, und am liebsten hätte Jolin sich auf der Stelle in Luft aufgelöst. »Es geht ihr nicht gut.«
»Ist sie krank?«
Jolin schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Sie ist nur ein bisschen überarbeitet«, log sie. Ma würde ihr das verzeihen.
»Ich komme mit«, sagte Rouben.
»Zu mir nach Hause?«
»Nein, zur U-Bahn.« Er klappte den Kollegblock zu und verstaute ihn und den Kugelschreiber in seiner Ledermappe. »Ich muss nur noch die Bücher zurückbringen. So viel Zeit hast du doch, oder?«
Jolin zögerte. »Okay«, sagte sie schließlich. Natürlich hätte sie behaupten können, es besonders eilig zu haben, aber sie wollte diese kleine Notlügengeschichte nicht unnötig aufblähen. Während Rouben die Bücher zum Tresen brachte, ging sie langsam auf den Ausgang zu, lehnte sich in den Türrahmen und wartete. Rouben wechselte ein paar Worte mit der Angestellten, er nickte und lächelte und kam dann mit langen Schritten auf Jolin zu.
»Ich fahre nicht so wahnsinnig gern allein«, sagte er. »Irgendwie bin ich immer noch etwas unsicher.«
»Gab es in deiner alten Stadt keine U-Bahn?«, fragte Jolin.
»In meiner alten Stadt?« Rouben streifte sich seine dunkelgrauen Lederhandschuhe über die Finger. Einen Augenblick lang schien er irritiert zu sein. »Nein«, meinte er schließlich. »Dort haben wir uns anders fortbewegt.«
»Anders fortbewegt?« Jolin sah ihn mit großen Augen an. »Aber du bist doch kein Außerirdischer?«
Rouben stieß einen kurzen Lacher aus. »Nein. War bloß ’n Scherz.«
»Dachte ich mir fast«, murmelte Jolin. Besonders witzig fand sie das allerdings nicht, und nachbohren mochte sie nun auch nicht mehr. Schweigend lief sie neben ihm her, die Treppe zur Pausenhalle hinauf und über den Schulhof.
Es dämmerte bereits, und deshalb erkannte sie die Mädchen, die an der Ausfahrt des Schülerparkplatzes standen, erst auf den zweiten Blick. Es waren Klarisse, Anna, Mellie, Susanne, Katrin und Rebekka. Zuerst dachte Jolin, dass sie auf Rouben und sie gewartet hätten, doch dann bemerkte sie den überraschten Ausdruck in Annas Augen und wusste, dass es nicht so war.
»Hi«, sagte Klarisse. Sie löste sich aus der Gruppe und kam zielstrebig auf Rouben zu. »Ich freue mich, dass du zu meiner Party kommst.« Sie postierte sich genau vor ihm, sodass er stehen bleiben musste, und schaute ihn mit zurückgelegtem Kopf und unter halb heruntergelassenen Lidern herausfordernd an.
»Ja, das ist wirklich sehr nett von dir«, erwiderte Rouben. »Ich freue mich auch.«
Klarisse machte eine lässige Handbewegung und lächelte selbstverliebt. »Natürlich hätten wir zwei Hübschen auch alleine ausgehen können. Aber das lässt sich ja vielleicht nachholen.« Sie streifte Jolin mit einem kurzen, gehässigen Blick und wandte sich dann wieder ihm zu. »Oder was meinst du?«
Rouben sagte nichts. Er sah Klarisse einfach nur an, fast eine
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