Vollmondkuss
Mal anzusehen. »Ich kenne keinen Rouben.«
»Aber Sie müssen ihn kennen«, erwiderte Jolin. »Er hat Ihren Blick und Ihre Hände ...«
»Ich kenne keinen Rouben«, unterbrach er sie ungeduldig. »Und jetzt geh!«, stieß er heftig hervor. »Begrab das Tier und komm nie wieder hierher!« Gewaltsam entriss er Jolin seine Jacke und versetzte ihr einen Stoß, sodass sie zurücktaumelte. Als sie sich wieder gefangen hatte, war er bereits in seinen Container geflüchtet. Jolin hörte nur noch, wie er den Schlüssel umdrehte. Eine Weile blieb sie einfach stehen und starrte auf die feuerrote Tür. Sie konnte nicht fassen, wie er sie behandelt hatte. Als ob sie eine Fremde, schlimmer noch, eine Aussätzige wäre. Und mit einem Mal spürte sie wieder diese kalte Wut in ihrer Brust, die sich in ihrem Herzen festbiss wie ein wildes, ungezähmtes Tier. »Das wirst du mir büßen, Harro Greims«, wisperte sie. Entschlossen umrundete sie den Wohncontainer. Auf seiner Rückseite ließ sie die Plastiktüte zu Boden gleiten, holte den Spaten hervor und stieß ihn in den Boden.
Als Jolin die Straßenbahn am Hauptbahnhof verließ, war es beinahe taghell. Sie stopfte die Plastiktüte in einen der Müllbehälter, die an den Wartehäuschen angebracht waren, und hastete zum Eingang der U-Bahn. Vor den Fahrscheinentwerterkästen stoppte sie kurz, hob sich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Rolltreppen bis zu den Bahnsteigen hinunterzuspähen. Purer Schwachsinn, da sie sie ohnehin nicht bis zum Ende überblicken konnte! ER ist nicht da, ER wird schon nicht da sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Schließlich konnte ER nicht immer und überall dort auftauchen, wo sie sich befand. Das war völlig unlogisch, es widersprach mathematisch belegbar dem Wahrscheinlichkeitsgesetz.
Jolin atmete tief durch und ging weiter. Sie betrat die Rolltreppe und fuhr zum Bahnsteig hinunter. Auf dem Gegengleis hielt ein Zug. Er öffnete die Türen und spuckte Trauben von Menschen mit morgenmüden Gesichtern aus, die auf die Rolltreppe zueilten. Jolin trat zur Seite und schaute auf die Anzeigentafel. Noch drei Minuten, dann kam die S31, die sie zur Schule bringen würde, gerade eben noch rechtzeitig zum Biokurs.
Der Bahnsteig füllte sich allmählich. Jolin ging langsam bis zur Mitte. Sie behielt die Leute im Auge, aber ER kam nicht, und ER saß auch nicht im Zug. Dass ER heute Morgen in ihrer Straße gewesen war, musste ein Zufall gewesen sein. Die Tatsache, dass ER sich bei Lechtewink ausgerechnet nach dem Roman erkundigt hatte, den Jolin sich später kaufte, oder dass seine Haut ebenso blass wie die von Rouben war ... Alles Zufälle! Es musste so sein, es musste einfach! Wenn es anders war, wenn es tatsächlich etwas mit ihr zu tun hatte, diesen Gedanken würde sie nicht ertragen können, darüber würde sie verrückt werden, früher oder später.
»Du bist es schon, Jolin«, murmelte sie lautlos. »Und es hat mit dir zu tun, verdammt nochmal, das hat es!«
»Wollen Sie nicht einsteigen, Fräulein?«, fragte eine Stimme neben ihr, und jemand berührte sie sanft am Arm.
Jolin zuckte zusammen, fast hätte sie dem großen, stattlichen Mann neben ihr einen Stoß mit dem Ellenbogen verpasst. Er trug auch einen Hut, aber einen hellbraunen mit einer feinen dunklen Krempe, und anders als ER lächelte er sie freundlich an.
»Oh, ja, natürlich«, stammelte Jolin. Sie hatte den Zug gesehen, aber sie hatte nicht realisiert, dass es ihrer war. Zwischen ihr und der offenen Tür klaffte nun eine Lücke von ein paar Schritten. Eine junge Frau war gerade eingestiegen. Jolin rannte los, erreichte die Tür und wartete, dass der große Mann an ihr vorbeitrat. Doch als sie sich umdrehte, war er nicht mehr da. Das Einzige, was sie noch registrierte, war ein leises Flügelschlagen und ein Schatten, der zur Decke der U-Bahn-Station hinauffloh, dann schlossen sich die Türen, und der Zug fuhr an.
Jolin stand wie erstarrt. Sie sah ihr bleiches Gesicht, das sich in der Scheibe des Türflügels spiegelte, und erkannte sich kaum wieder. Was passierte um sie herum, was geschah mit ihr? Wer war Rouben? Wer ER, der Typ mit dem schwarzen Lederhut? Und wer der große freundliche Mann eben auf dem Bahnsteig? Welche Rolle spielte Harro Greims, der früher so warmherzig gewesen war und sie heute früh so kalt abgespeist hatte? Welches Geheimnis verbarg die Frau auf dem Bild, die vor vielen Jahren seine Geliebte gewesen war? Warum war die Fledermaus aus-gerechnet in
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