Vollmondkuss
sie fasziniert, dass in diesen eckigen Metallbehältern mit den wenigen winzigen Fenstern so viele Menschen wohnen konnten. Die meisten von ihnen schienen es auch nicht besonders lange auszuhalten, denn immer wieder hatten andere dort gewohnt und bis auf wenige Ausnahmen waren es Dunkelhäutige, Türkeistämmige oder Asiaten gewesen, deren Sprache Jolin nicht verstand. Inzwischen wusste sie natürlich, dass diese Menschen trotz der Enge dort nicht freiwillig fortgegangen, sondern von den Behörden in ihre Heimatländer zurückgeschickt worden waren. Damals hatte ihr das niemand gesagt, auch ihre Eltern nicht, die ja wahrscheinlich nicht einmal ahnten, dass Jolin sich so oft bei den Containern herumdrückte. Und auch Harro Greims nicht, der Einzige, der von Anfang an da war und auch blieb. Er war älter als die anderen, er war einer der wenigen Deutschen, und er wohnte im schönsten der acht Container, die auf einer kleinen sandigen Fläche eng beieinander aufgestellt waren. Jolin hatte ihn kennengelernt, als sie, angelockt von der bunten Bemalung auf der Rückseite, um den Container herumgeschlichen und ihm direkt vor die Füße gelaufen war. Er hatte auf einem Klapphocker gesessen und seine Pfeife gestopft. Die grauen Locken, die vor ein paar Jahren einmal blond gewesen sein mussten, hatten sich bis auf seine Schultern gekringelt. Sein Bart war verfilzt und seine Kleider schmutzig und geflickt gewesen. Aber er hatte gut gerochen und seine Fingernägel waren immer sauber und sorgfältig gefeilt gewesen.
Jolin hatte Harro Greims gleich gemocht und er sie offensichtlich auch. Ganze Nachmittage hatten sie vor seinem Container gehockt, mit seiner Mischlingshündin Helma gespielt und sich miteinander unterhalten. Jolin berichtete von der Schule, den kleinen und großen Gemeinheiten der Lehrer und von ihren wenigen Freunden. Harro Greims erzählte von seiner Jugend, seinen Reisen rund um die Welt und manchmal auch von seiner großen Liebe. Immer, wenn er von ihr sprach, leuchtete in seinen hellen Augen eine winzige, Funken sprühende Flamme auf, die Jolin an ein Feuerwerk erinnerte. Meistens erzählte Harro Greims das Gleiche, nämlich, dass er diese wunderschöne Frau während einer Führung durch eine Burg in Rumänien kennengelernt und sich gleich in sie verliebt hätte.
»Sie war so blass und so geheimnisvoll, und sie wusste so viel über Flughunde, wie sie leben und jagen. Es hat mich über alle Maßen begeistert.«
»Und warum hast du sie nicht geheiratet?«, hatte Jolin gefragt, nachdem sie die Geschichte mindestens zehnmal gehört und anschließend jedes Mal wieder dem Schweigen des alten Mannes gelauscht hatte.
»Das ging nicht«, war Harro Greims knappe Antwort gewesen.
»Und wieso nicht? Weil sie aus Rumänien war?«
»Ja, so ungefähr.«
»Konntet ihr euch nicht verstehen?«, hatte Jolin weitergefragt.
»Doch, doch. Wir haben uns sehr gut verstanden«, hatte Harro Greims erwidert. Er hatte ihr übers Haar gestrichen und gelächelt. »Aber meistens haben wir uns geküsst.«
»So, wie alle Liebespaare das machen?«
»Ja, genau so.«
»Und dann?«
»Was meinst du?«
»Bist du dann einfach wieder nach Hause gefahren?«
Der alte Mann hatte an seiner Pfeife gezogen und genickt. »Ja, so ungefähr. Eigentlich hat sie gar nicht in Rumänien, sondern ganz in meiner Nähe hier in Deutschland gewohnt.«
»Und trotzdem wollte sie nicht bei dir bleiben?«
»Nein, das wollte sie nicht.«
»Haben ihre Eltern das nicht erlaubt?«, hatte Jolin gefragt, und wieder hatte Harro Greims genickt und sein »Ja, so ungefähr« gesagt. Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen gewesen, und Jolin hatte sich schließlich damit zufriedengegeben, war sie mit ihren zwölf Jahren doch selbst in Liebesdingen noch so unerfahren gewesen, dass sie nicht wusste, wie sie geschickter hätte nachbohren können. Damals hatte es zwar einen Jungen gegeben, der Jolin manchmal aus der Ferne beobachtete. Er hatte dunkle Haare gehabt und dunkle Augen, das war alles gewesen, was sie von ihm wusste. Sobald sie ihn bemerkte, hatte sie furchtbares Herzklopfen bekommen und war schleunigst weggehuscht. Nie hatte sie sich getraut, einmal genauer hinzusehen. Und Harro Greims hatte sie auch nichts davon erzählt. Im Vergleich zu seiner großen romantischen und unerfüllten Liebe war sie sich mit dieser Geschichte dumm vorgekommen, und mit einem ganz ähnlichen Gefühl stieg sie auch jetzt aus der Straßenbahn. In Liebesdingen war Jolin immer noch nicht
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