Vollmondkuss
auf Augenhöhe mit den anderen Mädchen ihres Alters. Ein einziges Mal hatte sie auf einer Schulfete mit einem Jungen aus ihrer Parallelklasse geknutscht, das war alles gewesen, und Jolin hatte es noch nicht einmal besonders aufregend gefunden. Dieses Ereignis war nun zwei Jahre her, und eigentlich hatte sie es nur gemacht, weil Anna sie mehr oder weniger dazu gedrängt hatte.
Erfahrungen sammeln und vergleichen, das war damals das Motto gewesen, und Anna hatte sich diesbezüglich wahrlich nicht zimperlich angestellt, während Jolin noch immer geduldig darauf wartete, dass die echte, die große Liebe kam, nicht von jetzt auf gleich, nicht über Nacht, aber doch so, dass man irgendwann ihre Kraft und ihre Bedingungslosigkeit spüren konnte.
Nie und nimmer würde Jolin nochmals einen Jungen küssen, zu dem sie sich nicht wirklich von ganzem Herzen hingezogen fühlte. Auch deshalb musste sie mit Harro Greims reden. Sie wollte endlich hören, welches Geheimnis die schöne blasse Frau auf dem Bild hütete. Außerdem musste sie herausfinden, woraus sich die Ähnlichkeit zwischen ihm und Rouben erklären ließ. Vor allen Dingen aber wollte Jolin sehen, wie der alte Mann auf die tote Fledermaus reagierte.
An der Atmosphäre in der Siedlung hatte sich nichts geändert. Es gab vielleicht ein paar eingeschlagene und notdürftig mit Klebeband geflickte Fensterscheiben mehr als damals, aber insgesamt kam Jolin alles sehr vertraut vor, mit dem einzigen Unterschied, dass sie sich inzwischen kaum mehr vorstellen konnte, hier jemals wieder zu leben.
Mit schnellen Schritten lief sie an dem zehnstöckigen Haus vorbei, in dem sie vor fünf Jahren mit ihren Eltern gewohnt hatte, und überquerte den Parkplatz, an dessen Ende immer noch dieselben beiden Straßenlaternen kaputt waren. Langsam ging Jolin weiter. Gleich hinter der Garagenzeile waren damals die Container aufgestellt gewesen. Es hatte einen schmalen Durchschlupf zwischen der Garagenmauer und einem Mülltonnenunterstand gegeben. Jolin passte immer noch hindurch.
Wie stumme schwarze Schatten lagen die Container vor ihr auf dem kargen Sandboden. Der Himmel war dünn bezogen, darunter ließ sich der Mond nur schwach erahnen. Keine einzige der recht unwillkürlich verteilten Laternen brannte. Jolin hielt einen Moment inne und zog in einem langen Atemzug die feuchte, für Mitte November zu milde Luft in ihre Lungen. Langsam ließ sie ihren Blick über die Container gleiten. In der Dunkelheit sahen sie alle gleich aus, doch an Anzahl und Verteilung schien sich seit damals nichts geändert zu haben. Der dritte von rechts musste es sein.
Jolin spürte die Anspannung in ihren Schultern, als sie auf den Container zuschlich. Erst nachdem sie sich ihm bis auf wenige Meter genähert hatte, sah sie, dass er neu angemalt worden war. Nicht mehr Wiesengrün und Blumen zierten die Metallwände, sondern ein leuchtendes Blau und unzählige gelbe Sonnen mit langen Strahlen und weißem Innenkörper. Ein feiner Farbgeruch kroch ihre Nase hinauf. Der Anstrich war ganz frisch. Jolins Herz machte einen Satz. Harro Greims lebte noch! - Hoffentlich.
Leise umrundete sie den Container. Auf seiner Vorderseite standen immer noch der kleine runde Tisch und der Klapphocker inmitten einer Ansammlung von Blumentöpfen, aus denen jetzt allerdings nur dürre Zweige mit einzelnen vertrockneten Blättern ragten.
Jolin stellte sich vor die schmale Metalltür, die Harro Greims feuerrot angestrichen hatte, und klopfte dagegen. Sie wunderte sich, dass Helma nicht anschlug, denn obwohl es eine sehr sachte und überlegte Berührung gewesen war, vibrierte der ganze Container unter ihr. Jolin trat zur Seite und lauschte. War das ein Rascheln gewesen, das sie da gerade hinter der Metallwand vernommen hatte? Und jetzt - Schritte? Sie hielt den Atem an und starrte auf die Tür, die sich nun langsam öffnete. Ein leises Quietschen durchdrang die Stille. Dann ertönte ein Winseln. »Sei ruhig!«, zischte eine Männerstimme. »Platz!«, und schließlich schob sich ein zotteliger Kopf hinter der Tür hervor. »Wer da?« - Herrgott, Jolin erkannte ihn sofort, es war tatsächlich der alte Harro Greims!
»Ich bin’s«, wisperte sie. »Jolin.«
»Jolin?« Ruckartig wandte er ihr sein Gesicht zu. Der Bart reichte ihm mittlerweile bis auf die Brust, und seine hellen Augen funkelten unter den dichten Brauen wie hellblaue Saphire. »Was machst du hier? Mitten in der Nacht!« Hastig steckte er etwas silbrig Funkelndes in seine
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