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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schroeder
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drückte sie die Klinke hinunter und stieß die Tür weit auf. Sie ließ die Augen über ihre Habseligkeiten streifen. Auf den ersten Blick schien alles so wie immer zu sein. Jolin verharrte einen Moment in völliger Stille, sie hob ihren Kopf und blähte die Nasenlöcher. Aber da war nichts mehr. Der schreckliche Geruch war verschwunden.
    Erleichtert atmete sie auf und warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch viel Zeit, bis Rouben sie abholte. Jolin beschloss, ein Bad zu nehmen und ihre Nägel in Ordnung zu bringen. Auch wenn sie keinen Nagellack benutzen und keine Schminke auflegen würde, so wollte sie sich dem Armband, das Rouben ihr geliehen hatte, doch als würdig erweisen. Es sollte nicht wie ein Fremdkörper an ihr aussehen, nein, es sollte zu allem passen.
    Jolin badete fast eine halbe Stunde in dem nach wilden Rosen duftenden Öl, das Paula sich für besondere Anlässe gegönnt hatte. Das heiße Wasser entspannte sie und vertrieb den Rest aller schlechten Gedanken, und als sie die Wanne schließlich verließ und sich in ein weiches Handtuch wickelte, war sie wieder einmal überzeugt davon, dass sie sich all dieses undefinierbar Bedrohliche nur einbildete. Vielleicht hatten Anna und Paula recht, und sie kapselte sich wirklich zu sehr vom Leben ab. Immer nur Schule, Bücher und schwerwiegende Gedanken — musste man da nicht ganz automatisch irgendwann durchdrehen?
    Jolin steckte das Handtuch unter ihren Achseln fest, schraubte den Deckel von ihrer Creme ab und blickte in den Spiegel. Ihr Gesicht war blass wie immer, aber viel schmaler als sonst, und ihre blauen Augen wirkten riesengroß. Jolin nahm ein wenig Creme auf die Fingerkuppen und verteilte sie auf ihren Wangen, ihrer Nase und der Stirn. Sanft ließ sie die Finger kreisen, bis ihr Gesicht einen rosigen Ton annahm. Anschließend kämmte sie ihre Haare und föhnte sie trocken. Sorgsam fasste sie sie im Nacken zusammen und wollte das Haargummi darüberziehen, als ihr Blick auf Paulas bronzefarbenen Lidstift fiel, der auf der Spiegelkonsole lag. Sie ließ ihre Haare los, nahm den Stift und zog die Kappe ab. Mit leicht zitternden Fingern malte sie einen feinen Strich über die oberen Lidränder. Es fiel kaum auf, und dennoch wirkten ihre Auge plötzlich ganz anders, viel leuchtender und eindringlicher. Jolin massierte noch ein wenig ihre Wangen, trug einen Hauch farblosen Gloss auf und entschied, an diesem Abend keinen Nackenzopf zu tragen, sondern nur die vorderen Strähnen locker über die restlichen, offenen Haare zurückzulegen und mit einer kleinen Klammer auf dem Hinterkopf zusammenzustecken.
    Als sie fertig war, blickte sie sich noch eine Weile im Spiegel an, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie sich fremd oder vertraut vorkam und ob das überhaupt eine Rolle spielte. Das Mädchen, das ihr entgegenblickte, war ihr zumindest sympathisch. Wenn Jolin es irgendwo getroffen hätte, hätte sie sich gerne mit ihm unterhalten, es gefragt, was es so machte und wofür es sich interessierte - und plötzlich war der Zauber wieder verschwunden. »Du bist langweilig, Jolin«, flüsterte sie. »Blass, fade, öde.« Sie fixierte ihre schimmernden Lippen, die ihr mit einem Mal künstlich und verlogen erschienen. Hastig wischte sie mit dem Handrücken darüber, bis der Glanz verschwunden war. »Das ist die Wahrheit.«
    Jolin senkte den Kopf, löste die Klammer an ihrem Hinterkopf und tastete nach dem dicken dunkelblauen Haargummi, mit dem sie sich gewöhnlich die Haare zu einem Nackenzopf band. Es lag nicht auf der Konsole über dem Waschbecken. Jolin überlegte. Ihr fiel ein, dass sie sich die Haare bereits am Nachmittag gelöst hatte, bevor sie sich hinlegte. Das Haargummi musste also auf dem Nachttisch liegen. Jolin stieß die Badezimmertür auf und huschte den Flur entlang in ihr Zimmer zurück. Doch auf dem Nachttisch stand nur der Wecker, sonst nichts. Jolin bückte sich und suchte den Boden ab, aber auch dort fand sie das Gummi nicht. »Mist!«, fluchte sie leise. Sie ließ ihren Blick über den Schreibtisch und die Fensterbank gleiten und kontrollierte sogar die Hosentaschen. Doch das Haargummi blieb verschwunden. Also lief Jolin wieder ins Badezimmer, hob Paulas Kosmetikkoffer aus dem Regal und öffnete ihn. In einem kleinen Seitenfach fand sie ein dünnes Gummi. Es war kein wirklicher Ersatz, aber es würde seinen Zweck erfüllen, bis das alte dunkelblaue wieder aufgetaucht war.
     
    Rouben war pünktlich auf die Minute. Jolin stand bereits im

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