Vollmondkuss
Flur. Als es klingelte, schlüpfte sie schnell in ihren Steppmantel.
»Ich wünsche dir ganz viel Spaß«, sagte Gunnar, der gegen halb acht nach Hause gekommen war.
Jolin lächelte und hauchte ihrem Vater einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Schade, dass der junge Mann nicht noch kurz heraufkommen mag«, sagte Gunnar.
»Er hat bestimmt keine Parklücke gefunden«, log Jolin, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ihr Vater nickte. Um seine Augen lag ein wehmütiger Zug. »So wird es wohl sein«, sagte er leise.
Jolin versuchte ein Lächeln. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Rouben ist in Ordnung.« Jolin war selbst überrascht darüber, mit welch tiefer Überzeugung sie das ausgesprochen hatte.
»Natürlich«, sagte Gunnar. Er nahm ihre Hand und schob den Ärmel ihres Steppmantels ein wenig zurück, bis das Armband mit den blauen Steinen zum Vorschein kam. »Ist das von ihm?«
»Ja.« Jolin spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Sie wollte nicht, dass ihr Vater etwas Falsches dachte. Sie und Rouben. Allein schon der Gedanke daran war bescheuert. Vielleicht würde er diesen ganzen Abend an ihrer Seite bleiben, so viel Anständigkeit traute sie ihm absolut zu, aber das bedeutete im Grunde genommen rein gar nichts. »Er hat es mir geliehen.«
»Der Junge hat Geschmack«, sagte Gunnar Johansson nicht ganz ohne Neid im Unterton. »Die Steine haben haargenau die gleiche Farbe wie deine Augen.«
Er hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, da klingelte es zum zweiten Mal.
»Pa, ich muss jetzt«, sagte Jolin.
»Natürlich, entschuldige.« Gunnar öffnete die Tür und machte einen Schritt zur Seite, damit seine Tochter ins Treppenhaus treten konnte. »Also dann ... noch einmal ... viel Spaß.«
»Danke, Pa.« Jolin lief an ihm vorbei und hastete die Treppen hinunter. Sie hörte, wie über ihr die Wohnungstür ins Schloss fiel. Du machst einen Fehler! Dieser Gedanke durchzuckte sie kurz und heftig und völlig überraschend. Er hinterließ eine frostige Kälte zwischen ihren Schläfen, und unerklärlicherweise hatte Jolin das Gefühl, dass es nicht ihr eigener gewesen war. - Absurd! Niemand war in der Lage, den Gedanken eines anderen zu denken, ebenso wenig wie jemand seine eigenen Gedanken in das Gehirn eines Fremden pflanzen konnte. Jolin schüttelte sich, damit sie sich nicht noch in diese Idee hineinsteigerte, und eilte die Treppen hinunter.
Kurz bevor sie das erste Stockwerk erreichte, erlosch das Licht. Es geschah völlig lautlos, nicht mit dem gewohnten klackenden Geräusch des Zeitschalters. Vorsichtig tappte Jolin die letzten Stufen bis zum Absatz und tastete nach dem Schalter, der seltsamerweise kein rötliches Licht abgab. Sie drückte darauf, doch es tat sich nichts, das Treppenhaus blieb dunkel. Kopfschüttelnd ging Jolin weiter. Was sollte es? Dies war ein altes Haus, in dem immer mal etwas kaputtging. Ihre Augen würden sich rasch an die Dunkelheit gewöhnen. Langsam, die Hand über das Geländer gleitend, lief sie weiter und hörte bereits Roubens ungeduldiges drittes Klingeln, das von oben bis zu ihr herunterklang.
»Ich komme!«, rief Jolin.
Sie bog um die Ecke und sah auf den Stufen bereits das Licht, das die Straßenlaternen durch das geriffelte Glas der Haustür in den Treppenflur warf.
Plötzlich schob sich ein Schatten darüber. Jolin sah das ebenmäßige Profil eines Mannes, der einen Hut trug. Eine Sekunde lang war sie wie gelähmt, dann wich sie langsam zurück, während sie den Schatten fixierte. Der Mann wandte den Kopf, und das Profil verschwand. Jolin hörte eine Art Summen, die Haustür wurde aufgedrückt und - Rouben trat ins Haus. Er schaltete das Licht ein und blickte sie verwundert an. »Was ist los?«
»I-ch ...«, stammelte Jolin. »D-da war jemand.«
»Wo?«
»Dort, gleich neben der Treppe. Er muss aus dem Keller gekommen sein.«
Rouben reckte den Hals und spähte in den Kellerabgang. »Da ist niemand.«
Dann habe ich mir das wohl nur eingebildet, dachte Jolin. Wieder einmal. Nicht mehr lange und sie würde wirklich noch durchdrehen.
»Vielleicht ist das einer eurer Nachbarn gewesen«, versuchte Rouben eine Erklärung zu finden. »Er kam aus dem Keller, dann fiel ihm ein, dass er etwas vergessen hat, und ist wieder umgekehrt.«
Aber dann hätte ich seine Schritte hören müssen und die Tür schlagen, dachte Jolin. Doch sie hatte nichts, absolut gar nichts gehört.
»Warum hast du auch kein Licht gemacht!«, sagte Rouben beinahe vorwurfsvoll.
»Der Schalter
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