Vollmondkuss
Wenn man einen Beruf hat oder eine Aufgabe, die sehr viel Zeit beansprucht, tut man tagein, tagaus das Gleiche. Gerade wenn man zufrieden oder sogar glücklich damit ist, gewöhnt man sich sehr schnell daran und fühlt sich sicher und geborgen damit. In einer solchen Situation ist die Gefahr, dass man nicht mitbekommt, wenn sich der innere Blickwinkel ändert, sehr groß. Man könnte die Chance seines Lebens verpassen.«
»Du denkst also, dass Ma rechtzeitig den Absprung geschafft hat?«, erwiderte Jolin.
»Ob rechtzeitig oder nicht spielt keine Rolle«, antwortete ihr Vater. »Sie hat etwas in ihrem Leben verändert. Sie hatte große Angst davor, es zu tun ...«
»Hat sie das gesagt?«, fiel Jolin ihm ins Wort.
»Nein.« Gunnar Johansson lächelte. »Aber ich bin lange genug mit ihr verheiratet, um zu wissen, was in ihr vorgeht. Na ja, jedenfalls ist sie ihrer inneren Stimme gefolgt. Und das ist das Entscheidende.«
Jolin sah gedankenverloren auf seinen Teller.
»Glaubst du, dass man dieser inneren Stimme immer folgen sollte?«, fragte sie.
Ihr Vater nickte. »Ja, unbedingt.« Er schob sich eine weitere Gabel Reissalat in den Mund und begann zu kauen. Sein Blick ruhte dabei unverwandt auf Jolin.
»Was ist?«, fragte sie.
Gunnar schluckte den Salat hinunter und machte mit seiner Gabel eine kreisende Bewegung. »Könnte es vielleicht sein, dass du doch ein wenig in diesen Rouben verliebt bist?«
Nein, ganz sicher nicht!, hätte Jolin am liebsten gesagt, doch sie senkte nur den Kopf und schwieg. Und ihr Vater war wie erwartet taktvoll genug, nicht weiter nachzubohren. Wie sich durch das Gespräch über ihre Mutter gezeigt hatte, machte er sich ohnehin seine Gedanken und hatte sich wahrscheinlich auch in dieser Sache längst seine Meinung gebildet. Jolin hatte keine Lust, dagegen anzureden. Wozu auch? Schließlich wusste sie selbst am besten, wo sie stand. Und das, was sie für Rouben empfand - wenn man es überhaupt so nennen konnte -, hatte nicht im Geringsten etwas mit Verliebtsein zu tun.
Um kurz vor zehn fiel die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss. Jolin stand bis zum Kinn eingemummelt in Baskenmütze, Steppmantel und Schal im dunklen Treppenhausflur. Ihr Herz schlug so hart gegen ihr Brustbein, dass jeder Atemzug schmerzte. Sie wollte nicht gehen, ihn nicht treffen, nicht noch einmal hinter diesem merkwürdigen Fahrer in dem schwarzen Citroen sitzen, und zugleich sehnte sie sich mit ganzer Seele danach, dieses Abenteuer, diesen ganzen verrückten Wahnsinn endlich hinter sich zu bringen.
»Er wird dir nichts tun«, flüsterte sie sich selber Mut zu. »Vielleicht wird er dir sein Geheimnis nicht verraten. Möglicherweise wird er sich auch nicht davon überzeugen lassen, dass er wieder zurückgehen muss, aber er wird, er kann dir nichts tun. Hörst du, Jolin, dir wird nichts passieren. Gar nichts!«
Sie schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen, was ihr nicht wirklich gelang. Dann schaltete sie das Licht ein und ging los. Erste Treppe, zweite Treppe, dritter Stock. Dritte Treppe, vierte Treppe, zweiter Stock. Fünfte Treppe, sechste Treppe. Eiseskälte. Jolin blieb stehen. Die Lampe war repariert worden, jede Etage wurde ausgeleuchtet. Es war hell genug, um in jeden Winkel, in jeden Türeingang und ins Erdgeschoss zu spähen. Es war niemand dort. Kein Mann im schwarzen Mantel. Absolut niemand. Und trotzdem: Die Kälte bildete sie sich doch nicht ein!
Jolin lief weiter. Zuerst langsam, dann schneller. Siebte Treppe, achte Treppe. Erdgeschoss. Sie riss die Haustür auf. Wärme schlug ihr entgegen. Wärme, die nicht ihre Wangen oder ihre Hände, sondern ihr Inneres berührte. Es war nur ein kurzer Augenblick. Dann sah sie, dass der C6 bereits in zweiter Reihe hinter einem Lieferwagen gehalten hatte. Gegenüber auf der anderen Straßenseite waren tatsächlich zwei Laternen kaputt. Jolin hob ihren Blick zum Himmel. Hier und da funkelten ein paar Sterne, ansonsten war er pechschwarz. Neumond eben. Zögernd ging Jolin auf den Wagen zu. Die hintere Tür öffnete sich. Noch einmal atmete sie tief ein und aus, dann beugte sie sich in den Fahrgastraum.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Rouben.
Jolin schwieg.
»... und dass du mir vertraust.«
»Ich vertraue dir nicht«, entgegnete Jolin. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Bevor ich einsteige, muss ich etwas wissen ...«
Rouben hob die Augenbrauen. »Aha ... Und was?«
»Hast du Carina überfallen? In der Nacht nach Klarisses
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