Vollmondkuss
so, als ob es von der Nacht verschluckt würde. Wahrscheinlich war wieder einmal eine der Laternen kaputt.
Jolin stand vom Sofa auf und schaltete den Fernseher aus. Sie brachte den Rest Reissalat in die Küche zurück, suchte frische Sachen aus ihrem Kleiderschrank und legte sich in die Badewanne. Sie wollte nicht an Rouben denken, aber natürlich dachte sie an nichts anderes.
Eine Dreiviertelstunde später, nachdem sie sich abgetrocknet, eingecremt und angezogen hatte, registrierte sie einen Anruf auf dem Automaten. Sie drückte auf die Taste und erkannte Klarisses Stimme bereits nach der ersten Silbe.
»Jolin, was soll der Scheiß? Es ist jetzt nach halb acht. Glaubst du, so eine Neumondnacht dauert ewig? Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt.«
»Keine Sorge, das hast du«, murmelte Jolin, löschte die Nachricht und ging in ihr Zimmer. Sie kämmte ihre Haare nochmal durch und band sie wie gewohnt im Nacken zusammen. Dann setzte sie sich auf den Stuhl neben ihrem Fenster und wartete.
Um kurz nach acht kam ihr Vater nach Hause. Jolin hörte die Tür schlagen. Sie stand auf und ging in den Flur. »Hallo, Pa«, sagte sie und lehnte sich gegen die Wand.
»Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt«, sagte Gunnar Johansson, während er seinen braunen Wollmantel an die Garderobe hängte. »Die Tür ist mir aus der Hand geschlagen. Dabei geht draußen überhaupt kein Wind. Es kann also gar nicht gezogen haben.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass im Treppenhaus irgendetwas ist.« Er sah seine Tochter ganz direkt an, doch wenn ihm aufgefallen sein sollte, dass sie plötzlich ein wenig schneller atmete, ließ er es sich nicht anmerken. Gunnar lächelte und machte eine wegwerfende Geste, so als ob er seine Bemerkung sogleich wieder fortwischen wollte. »Diese dunkle Jahreszeit macht einen noch ganz verrückt.«
»Vielleicht bist du auch einfach bloß müde«, erwiderte Jolin. Fast wäre sie drauf und dran gewesen, ihm alles zu erzählen. Aber der Gedanke, dass er sie dann heute Abend nicht fortlassen würde, hinderte sie.
»Schon möglich.« Gunnar zuckte die Schultern. »Ich nehme an, deine Mutter ist unterwegs ...?«
Jolin nickte. »Weißt du nicht...?«
»Doch, doch.« Ihr Vater berührte sie sanft an der Schulter. »Es ist nur so ungewohnt. Hast du schon was gegessen?«
»Ja, aber ich leiste dir trotzdem Gesellschaft«, sagte Jolin. Jede Ablenkung war ihr recht. »Um zehn habe ich allerdings noch eine Verabredung.«
»So?« Gunnar zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Mit jemandem aus meinen Jahrgang«, sagte Jolin, während sie ihrem Vater in die Küche folgte.
»Also nicht mit Anna?«
»Nein«, sagte Jolin. »Er heißt Rouben.«
»Ach so, der Junge, der dich schon mal abgeholt hat.«
»Hat Paula dir das erzählt?«
Gunnar grinste. »Natürlich hat sie das.« Er nahm den Reissalat aus dem Kühlschrank, stellte einen Teller und zwei Gläser auf den ovalen Tisch und nahm eine Gabel und einen Esslöffel aus der Schublade. »Magst du ihn?«, fragte er vorsichtig.
Jolin zuckte die Achseln. »Ich weiß noch nicht. Er scheint ganz okay zu sein.« Es tat ihr gut, mit ihrem Vater über Rouben zu reden. Einerseits war es ein bisschen so, als ob sie ihm zumindest einen Teil ihres Geheimnisses anvertraute, und andererseits ließ es das Ganze irgendwie so normal erscheinen.
»Aha« , sagte Gunnar. Er schenkte Mineralwasser in die beiden Gläser, dann setzte er sich und häufte Salat auf seinen Teller. »Hast du überhaupt schon mal ...?«
»Was? Sex gehabt?«
Gunnar Johansson sah seine Tochter überrascht, fast ein wenig empört an.
»Also, ich war noch nie verliebt«, sagte Jolin schnell. »Wenn es das ist, was du meintest.«
Ihr Vater lächelte. »Schon eher.« Er nahm eine Gabel Reissalat und kaute eine Weile darauf herum. »Schmeckt gut«, meinte er schließlich.
»Alles, was Ma kocht, schmeckt gut«, erwiderte Jolin.
Gunnar nickte.
»Bist du eigentlich neidisch auf sie?«, fragte Jolin.
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nein, weiß Gott nicht. So eine Fernsehsendung wäre mir zu stressig.«
»Findest du es denn gar nicht komisch, dass sie plötzlich so ... na ja, so sehr an die Öffentlichkeit geht. Bisher hat sie jahrelang nur für uns gekocht, und jetzt plötzlich will sie es für ein Riesenpublikum tun.«
Gunnar zuckte mit den Schultern. »Manchmal ändert sich eben die Perspektive. Ich glaube, das ist für die persönliche Weiterentwicklung sehr wichtig.
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