Vollmondkuss
Dach.
»Niemand«, sagte Rouben. »Glaub mir, Jolin. Außer uns beiden ist weit und breit kein Mensch hier.«
Kein Mensch vielleicht ...
Er verstärkte den Druck seiner Hand auf ihrem Rücken. »Jetzt frag nicht so viel. Komm einfach.«
Jolin presste die Lippen aufeinander. An Flucht war hier und jetzt noch weniger zu denken als eben im Wagen. Sie hatte sich in dieses Abenteuer begeben, nun musste sie wohl oder übel hindurch. Es gab kein Zurück. Wahrscheinlich hatte sie von Anfang an keine andere Wahl gehabt, aber auch darüber mochte Jolin in diesem Moment nicht nachdenken. Sie lief neben Rouben her auf das alte verfallene Haus zu. Die Steine des Plattenwegs waren brüchig, hier und da stand eine Ecke hervor.
»Pass auf, dass du nicht stolperst«, sagte Rouben. »Leider ist das kleine Schmuckstück nicht in allerbestem Zustand.«
Das kleine Schmuckstück war in der Tat geschmeichelt ausgedrückt. Als Jolin und er bei der Tür standen und Rouben seine Manteltaschen nach dem Schlüssel durch-suchte, ließ sie ihren Blick über die Frontseite gleiten. An vielen Stellen war zwischen den teils grün bemoosten Ziegelsteinen bereits der Putz herausgebröckelt. Die meisten Fensterscheiben hatten Risse, die Rahmen waren feucht und morsch.
»Seit wann steht es leer?«, fragte Jolin.
»Das tut es doch gar nicht«, erwiderte Rouben lächelnd. Mittlerweile hatte er den Schlüssel gefunden. Er schob ihn ins Schloss und ruckelte kräftig an der Klinke, während er die Tür zu öffnen versuchte. Er fluchte leise, schließlich gab sie nach und ließ sich leise quietschend aufdrücken. »Es wohnen jede Menge Mäuse hier. Marder ...«
»Fledermäuse?«, sagte Jolin.
»Die auch«, sagte Rouben. »Aber die sind nachts ja auf der Jagd.«
»So wie du?«
Rouben sah sie an. Und plötzlich spürte Jolin wieder diese seltsame Stille, die ihn schon einmal umgeben hatte, als sie ihn nach privaten Dingen gefragt hatte.
»Vielleicht ist es ein Fehler«, sagte er schließlich. »Vielleicht sollte ich dich wirklich wieder nach Hause bringen.« Zögernd zog er ein Handy aus seiner Manteltasche.
»Es tut mir leid«, sagte Jolin hastig. Sie wollte es nicht sagen, es platzte einfach aus ihr heraus.
»Was tut dir leid?«
»Na ja, dass ich immer so blöde Bemerkungen mache ...«
»Du hast ja nicht ganz unrecht damit«, erwiderte Rouben. »Aus deiner Perspektive betrachtet jedenfalls.«
Jolin schluckte.
»Du musst dich entscheiden«, sagte Rouben. »Ich habe dich zwar gebeten, heute Nacht mit mir hierherzukommen, aber ich möchte dich zu nichts zwingen. Du bist freiwillig hier. Und du kannst jederzeit wieder in die Stadt zurück.«
Auf einmal? Vorhin im Wagen hatte es noch ganz anders geklungen!
Rouben hielt ihr das Handy hin. »Ich kann den Fahrer rufen oder du deinen Vater.«
»Und was ist mit dir?«
»Ich bleibe auf jeden Fall hier«, sagte Rouben.
Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, in dem Jolin sich entschied. Vielleicht war es auch bloß ein Reflex. Jedenfalls hatte es nichts mit ihrem Verstand zu tun, als sie an ihm vorbei in den dunklen Flur trat. »Gibt es hier irgendwo Lichtschalter?«, fragte sie.
»Ja, allerdings funktionieren sie nicht«, sagte Rouben. »Wahrscheinlich ist es auch besser so. Ich glaube nämlich nicht, dass die Leitungen noch wirklich in Ordnung sind.«
»Weißt du wenigstens, wem das Haus gehört?«
»Natürlich. Niemandem.«
»Aber das gibt es nicht«, erwiderte Jolin. »Jedes Haus, jedes Grundstück gehört irgendjemandem.«
»Schon möglich«, sagte Rouben. Er drückte die Tür ins Schloss. Im nächsten Moment hörte Jolin ein leises Ratschen, dann flammte ein Feuerzeug auf.
»Hast du keine Taschenlampe?«, fragte sie
Rouben, dessen Gesicht im Feuerschein noch bleicher wirkte als sonst, schüttelte den Kopf. »Ich mag Feuer«, sagte er. »Es ist so lebendig.«
»Aber dieses Haus ist alt«, wandte Jolin ein.
»Und feucht«, sagte Rouben. »So schnell brennt hier nichts.« Er nickte zur gegenüberliegenden Wand. »Du wirst dich noch wundern ...«
»Wieso, was ist denn da?« Jolin drehte sich um und bemerkte eine steile, schmale Holztreppe, die ins obere Stockwerk führte, von wo aus ein schwacher flackernder Lichtschein zu ihnen herunterfiel.
»Willst du vorgehen, oder soll ich?«, fragte Rouben.
Unschlüssig blickte Jolin ihn an. Wer ist dort oben?
Wer oder was erwartet uns hier?, wollte sie fragen, aber Rouben hatte ja bereits mehr oder weniger hoch und heilig geschworen, dass sie
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