Vollmondkuss
dass er ihre Wärme braucht, obwohl sie selbst nur Kälte für ihn empfindet. Nicht, weil sie ihn nicht liebt, im Gegenteil: Seitdem sie Harro verlassen musste, ist er das wichtigste Wesen in ihrem absonderlichen Leben. »Es tut mir leid, dass ich nur eine halbe Mutter bin«, wispert sie ihm zu, während sein Köpfchen in ihrer Halsbeuge ruht. »Dafür wirst du eines Tages vielleicht ein ganzer Mensch sein dürfen.«
Am vierten Tag findet Ramalia ein verfallenes, einsam gelegenes Haus, das niemandem zu gehören scheint.
Auch am nächsten Tag war Rouben nicht in der Schule, doch diesmal schickte Klarisse nicht Anna vor, sondern sprach Jolin direkt an. »Ich hoffe, du hast alles im Griff«, sagte sie drohend, während sie gemeinsam den Raum verließen und durch den schmalen Gang in Richtung Pausenraum liefen.
»Ich denke schon«, erwiderte Jolin schulterzuckend.
»Dann kannst du mir ja bestimmt sagen, was mit ihm ist.«
»Stimmt, ich könnte«, betonte Jolin. »Da es allerdings nicht zu unserer Abmachung gehört ...«
Sie wollte cool wirken, doch das heizte Klarisses Ungeduld nur an. Hart umfasste sie Jolins Oberarm und drückte ihre langen, spitzen Fingernägel in ihren Pulli. Sie waren bis auf die Haut zu spüren. »Wann?«, zischte sie.
»Was wann?«
»Wann und wo werde ich ihn treffen?«
Jolin riss sich los. »Das sag ich dir später«, erwiderte sie heftig.
»Nein, das sagst du mir gefälligst jetzt!« Klarisse packte Jolin bei den Schultern und drückte sie gegen die Wand. »Sonst ...«
»Ach, hör doch auf«, sagte Jolin. »Mit deinen blöden Erpressungen kommst du doch sowieso nicht weiter. Was hättest du schon davon, wenn du jetzt mit deinen Abzügen zur Schulleitung oder zur Polizei rennst, he?« Sie versuchte Klarisses Arme wegzudrücken, es gelang ihr allerdings nicht. »Gar nichts hättest du davon«, fuhr sie fort. »Jedenfalls kein Date mit Rouben.«
Klarisse kniff die Lippen zusammen. »Ich warne dich!«, presste sie hervor. »Versuch bloß nicht, mich zu verscheißern.«
Und wenn schon, dachte Jolin. Was willst du mir denn groß antun? Offensichtlich kommst du nicht einmal auf die Idee, dass ich Rouben längst gewarnt haben könnte. Du bist naiv, Klarisse, du bist sogar dumm. Oder schlicht und ergreifend blind. Egal. Völlig egal. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf strömten, stahl sich ihr unmerklich ein Lächeln ins Gesicht.
»Was grinst du so blöd?«, fauchte Klarisse. Sie ließ Jolins linke Schulter los und versetzte ihr nun einen kräftigen Stoß gegen das Brustbein, sodass sie hart mit dem Hinterkopf gegen die Wand schlug. Es tat weh, doch Jolin unterdrückte ein Aufstöhnen.
»Weiter so«, sagte Rebekka, die plötzlich mit Susanne und Katrin hinter Klarisse stand. »Mach sie fertig.«
Jolin hatte die Mädchen nicht herankommen sehen.
»Los, hau ihr eine rein!«, stieß Katrin hervor. Ihre hellen Augen funkelten hasserfüllt. »Die hat so einen Typen doch gar nicht verdient. Die nicht!«
»Ihr seid vielleicht bescheuert«, sagte Jolin. »Fällt euch wirklich nichts Intelligenteres ein, als um euch zu schlagen?« Sie wunderte sich selbst darüber, dass es wirkte, aber Klarisse nahm tatsächlich ihre Hand herunter und wich einen Schritt zurück. »Nee«, sagte sie voller Abscheu. »An so einer mach ich mir doch nicht die Finger schmutzig.« Sie warf den Kopf in den Nacken und blickte ihre Freundinnen triumphierend an. »Die liefert mir das Schmuckstück freiwillig«, fuhr sie fort und wandte sich mit einem abfälligen Lächeln wieder Jolin zu. »Stimmt’s, Jolinchen, meine süße, kleine graue Maus? Du rechnest dir doch wohl nicht immer noch was bei ihm aus?«
»Ach, hau doch ab!«, rief Jolin wütend. Sie verstand selber nicht, wieso diese Art Bemerkungen sie nach wie vor verletzten. Klarisse hatte sie nun oft genug gebraucht, eigentlich sollten sie sich mittlerweile abgenutzt haben.
Jolin schloss die Augen und wartete, bis das hämische Lachen der Mädchen verklang und alle in die Pausenhalle oder nach draußen verschwunden waren. Ihr war verdammt nach Heulen zumute, doch sie verkniff es sich. Stattdessen zwang sie sich, an Rouben zu denken und dem, was er möglicherweise verkörperte, ins Gesicht zu sehen. Ich habe keine Angst vor dir, hämmerte sie sich ein, da berührte sie plötzlich jemand leicht an der Schulter.
»Hey! Ist alles in Ordnung mit dir?« Es war Leonhart.
Jolin öffnete stöhnend die Augen. »Mann, hast du mich erschreckt!«
»Tut mir
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