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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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Entscheidung war ihr so klar, so überzeugend erschienen: Sie hatten so kurz vor der Beendigung der Vermessung gestanden, dass auch sie dachte, diesen kleinen Aufschub könnten sie sich noch herausnehmen. Huahine und Moorea lagen weit voneinander entfernt.
Wir werden schon davonkommen, das habe ich gedacht. Dein Argument, dass wir erst aufbrechen müssten, wenn das Fieber die Insel erreicht, leuchtete mir ein. Wir haben es nicht gewusst. Wir haben einfach nicht wissen können, dass das Fieber nicht nur die Insel, sondern – was inzwischen naheliegt – auch dich längst erreicht hatte. Als wir nach Tahiti aufbrachen, haben wir es von Moorea mitgenommen.
    Wieder flatterten Carls bläulich weiß schimmernde Lider. Sanft strich sie über sein Haar. »Schlaf weiter. Wenn du gesund bist, werden wir in der Sonne sitzen und Früchte essen, schwimmen und am Strand spazieren gehen. Und erst wenn wir einander ein paar Tage genossen, angeschaut und geliebt haben, dann werden wir die Arbeit wieder aufnehmen«, flüsterte sie und spürte den Knoten im Hals.
Nicht weinen,
dachte sie
. Fang nur nicht an zu weinen.
    Sein Zittern riss sie aus ihren Gedanken, in Wellen durchlief es Carls Körper. Während sie ihm den Schweiß aus dem Gesicht wischte, bemerkte sie, dass sein Hemd durchnässt war. Sie knöpfte es auf und versuchte, seinen Arm durch den Ärmel zu schieben. Es gelang ihr nicht.
    Sie stand auf und sah, dass inzwischen die Nacht hereingebrochen war. Die Abendröte war nur noch in einem zarten Streifen am Horizont zu erkennen, gefolgt von einem violetten Ton, der fließend ins tiefe Schwarz überging. In der Nacht würde sein Fieber steigen, sie wusste, dass erneut der Kampf begann, es bis zum kommenden Tag zu schaffen. Nur das zählte.
    Während sie die hölzerne Kiste öffnete, wälzte Carl sich auf die Seite. Sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Neben seinen Büchern lagerte er, sorgfältig in ein leinenes Tuch gebunden, seine medizinischen Instrumente. Sie nahm die Schere heraus. Vorsichtig begann sie, sein Hemd zu zerschneiden und die Streifen unter ihm hervorzuziehen. Er stöhnte, als sie dabei seinen Arm anhob.
    »Es tut mir leid, mein Liebling, aber du musst aus dem nassen Hemd heraus«, flüsterte sie und wusch seinen Körper. Die breite Brust mit den zerzausten Haaren darauf, die Lenden, die in wunderschönem Fluss in die kräftigen Schenkel übergingen.
    Vorsichtig deckte sie ihn zu. Dieses Tuch hatte sie gemeinsam mit den tahitianischen Frauen aus Maulbeerbaumrinde hergestellt. Schicht um Schicht hatten sie die Fasern mit Holzkeilen weichgeklopft, um sie dann mit weiteren Schlägen miteinander zu verbinden. Sie hatte gewusst, dass er es liebte, auch bei warmen Nächten in Tücher gehüllt zu schlafen. So hatte sie sich bei der Arbeit immer wieder Carls Gesicht vorgestellt, das Leuchten in seinen Augen, wenn sie ihm das Tuch überreichen würde. Und es war so gekommen, wie sie es sich ausgemalt hatte. Das Leuchten in seinen Augen ließ sie auch jetzt noch lächeln.
    Für einen Augenblick glaubte sie, dass seine Augen jede ihrer Bewegungen, jede Geste ihrer Hände verfolgten, dass er wachlag und bei ihr war. Ein schöner Gedanke. Sie senkte den Kopf und schmiegte ihre Wange gegen die weiche Haut seiner Handinnenfläche.
    Mein gesammeltes Wissen! Alles, was ich gelernt habe, muss ich für Carl nutzen. Ich brauche einen Plan. Ich muss eine Diagnose stellen und mir genau überlegen, wie ich ihn behandle. Jede Minute zählt. Meine Angst lähmt mich, ich darf sie nicht gewinnen lassen.
     
    Ein angenehm kühler Wind wehte, und der Sand war noch von der Sonne angewärmt. Mary lief zum Meer hinunter und ließ das Wasser über ihre Füße spülen, die Kälte weckte die Lebensgeister.Um eine Diagnose stellen zu können, musste sie zusammentragen, was sie bisher über das Fieber gehört hatte. Es begann mit Abgeschlagenheit und Müdigkeit, Gliederschmerzen und Kopfweh, und sobald das Fieber ausbrach, schnellte es hoch und war nicht zu senken. Es kamen unterschiedliche Symptome hinzu, bei einigen Patienten Erbrechen, bei anderen Hautausschläge. Die Benommenheit steigerte sich bei allen im Verlauf der Erkrankung. Es trat Blut im Stuhl oder auch im Urin auf. Und in der Haut. Großflächige, rote Einblutungen in der Haut, die sich nach und nach dunkelblau färbten.
    Nein.
    Nein, das durfte nicht passieren.
    Ein Fieber, an dem man verblutete. Dagegen gab es kein Mittel. Sie hatte nichts, was Abhilfe schaffte, aber

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