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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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den der Schrecken sich vielleicht noch nicht zurückerobert hatte, zerfiel mit der heraufziehenden Dunkelheit. Mary zündete die Öllampe an, und Carl fragte sich, ob sie heute überhaupt etwas zu sich genommen hatte. Ob er sie inzwischen angesteckt hatte? Angst stieg in ihm auf, und er schob den Gedanken beiseite. Langsam löste er die Arme, die schweißnass auf seinem Brustkorb lagen und festgewachsen schienen. Der Schmerz ließ ihn die Luft anhalten. Noch hatte Mary nicht bemerkt, dass er wach war, dass sein Blick ihr folgte. Sehr gut, er wollte ihr die Zeit geben, sich zu erholen. Sobald sie entdecken würde, dass er nicht mehr schlief, würde sie sich wieder selbst vergessen. Sie würde ihn mit ihrer Fürsorge überschütten und die Krankheit noch unerträglicher machen. Eine Windböe schüttelte die Blätter des Daches, und das Geräusch ließ ihn erschrocken auffahren, sodass der Rücken sich verkrampfte. Hastig spannte er die Muskulatur an, doch der Schmerz blieb.
    Ein Wimmern.
    Er war es, der wimmerte.
    Carl schloss die Augen und sank auf die Matte zurück.
Himmel, ich klinge wie ein altes Weib. Der Verschluss der Tasche klickt, sie hat gehört, dass ich wach bin.
    Ihr Gesicht tauchte über seinem auf, die Augen waren dunkel vor Sorge.
    Sein Herz zog sich zusammen.
Wenn sie doch nur Medikamente hätte,
dachte er,
wenn sie doch die Chance hätte, mir die Schmerzen zu nehmen, bis ich gehen kann.

Tahiti, 13.   Juli 1786
     
    Wenn es keine Medikamente mehr gab, musste sie auf die alten Mittel zurückgreifen. Die Kiste mit den Schröpfkugeln, das Reisig, den Ölkrug, das Instrumententäschchen, die brennende Öllampe. Sie hatte alles zusammengetragen, was sie benötigte, und beugte sich vor.
    Vorsichtig packte sie Carl an der Schulter und drehte ihn auf den Bauch. Ob sie die Haut anritzen und dann die Kugeln setzen sollte? Sie durchwühlte das Instrumententäschchen. Weder ein Aderlassmesser noch einen Schnepper hatten sie dabei. Es reichte, die Haut zu ölen, entschied sie, und den Aderlass später vorzunehmen. Sie wölbte die linke Handfläche und goss Öl hinein, wärmte es an und zog mit der rechten Hand die Decke ein wenig beiseite. In kreisenden Bewegungen rieb sie Carls Schultern ein.
    Ihr Rücken warf einen Schatten, sodass sie die Öllampe ein Stück näher heranzog. Die Schröpfkugeln glänzten im Licht, als sie die Kiste öffnete. Nie hatten sie die Kugeln benutzt, genaugenommen verstand Mary nicht einmal, warum sie welche bei sich hatten. Ob sie zur Standardausrüstung der
Sailing Queen
gehört hatten? Oder waren die Kugeln noch aus Doc Havenports Nachlass? Sie zuckte die Schultern, nahm eine heraus, zündete ein Ästchen an und hielt die Flamme in das Glas. Die Wölbung füllte sich mit Rauch. Schnell zog sie Carl die Decke zur Hüfte herunter,drehte die Kugel, um sie unter dem Schulterblatt senkrecht anzusetzen. Und entdeckte den Fleck.
    Ein blauroter Schatten, der sich auf der weißen Haut abzeichnete.
    Faustgroß und auf Höhe der linken Niere.
    Sie ließ den Arm sinken, die Kugel fiel in den Sand.
    Carl verblutet. Er verblutet innerlich.
    Eine Leere breitete sich in ihr aus, die alles überdeckte: die Angst, die Einsamkeit, die Möglichkeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Und niemand war da, den sie fragen konnte, ob man diesen Prozess ausheilen lassen konnte.
    Plötzlich hob Carl den Kopf und schaute sie über die Schulter hinweg an: »Engel, was ist los?«
    »Nichts, nichts, ich bin nur sehr müde. Ich habe dir den Rücken geölt und wollte die Schröpfkugeln ansetzen, um die Muskulatur zu lockern.«
    »Danke, das ist lieb von dir. Können wir das auf morgen verschieben? Ich würde gern schlafen.«
    Lautlos weinend räumte Mary die Schröpfkugeln wieder in die mit Samt ausgeschlagene Kiste. Nichts konnte sie für ihn tun, und diese Hilflosigkeit trieb sie fast in den Wahnsinn. Sie nahm die letzte Kokosnuss und goss das Wasser in die große Schale, wrang den Lappen aus und begann, Carls Rücken zu waschen. Langsam kreisende Bewegungen auf blau-roter Haut.
Ob ich es ihm sagen soll? Mich mit ihm beratschlagen soll, wie weiter vorzugehen ist? Wenn ich nichts sage und ihn nicht beunruhige, solange ich ruhig bleibe, wird er mich gewähren lassen.
Der Gedanke tröstete sie.
Nein
, beschwor sie sich,
ich werde es ihm nicht sagen.
    Carl wand sich auf der Matte. Seine Augäpfel bewegten sich unter den geschlossenen Lidern ruckartig hin und her. Plötzlich riss er die Augen auf, drehte sich auf

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