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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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über die Lippen, ihr Blick schien blind geworden zu sein. Willenlos ließ sie sich den Pareo um die Hüften und den Umhang um den Oberkörper hüllen. »Wir wollen doch deine Haut vor der Sonne schützen«, sagte Revanui jedes Mal zum Abschluss des morgendlichen Bades, bevor sie sich einhakte und mit Mary zurück zur Hütte schlenderte, um sie auf ihren angestammten Platz zu setzen. Dort saß sie noch, wenn Owahiri zurückkehrte und den Leichengeruch in der Nase und auf der Haut mitbrachte.

Tahiti, 2.   September 1786
     
    Anderthalb Monde verbrachten sie so miteinander, und als Owahiri eines Morgens aufwachte, stand Mary neben ihm. Er konnte nicht sagen, wie lange sie neben der Matte darauf gewartet hatte, dass er die Augen aufschlug.
    »Wo ist er?«, fragte sie. Eine schlichte Frage, die Stimme kräftig, als hätte sie sich in den letzten Tagen ausgeruht und wäre zu Kräften gekommen.
    Owahiri erhob sich und füllte Wasser in Schalen. »Du warst lange fort«, antwortete er.
    »Ich weiß, und ich bin euch dankbar, dass ihr euch um mich gekümmert habt.«
    »Es war Revanui, ihr gebührt dein Dank. Ich hatte auf der Insel zu tun.«
    Er sah sie an. Sie war zurückgekehrt. Ihr Gott hatte entdeckt, dass er ihren Körper vergessen hatte, und sich zu dem Entschluss durchgerungen, ihm wieder Lebenswillen einzuhauchen. Auch wenn sie schmal geworden war, stand sie doch aufrecht vor ihm.
    »Bring mich zu ihm. Bitte.«
     
    An der Lichtung beim Wasserfall stieg Owahiri auf eine Anhöhe und zeigte auf einen Steinhaufen, aus dem ein Kreuz ragte. Zwei kräftigere Äste, die mit einem Band gegeneinandergebunden wordenwaren. Der Schatten eines Maulbeerbaumes wiegte sanft über den Steinen hin und her.
    »Er mochte diesen Ort.«
    »Haben eure Priester nichts dagegen, dass er hier liegt?«
    »Sie haben andere Sorgen. Der Totengeist ist kaum zu besänftigen. Einen nach dem anderen holt er sich.«
    Mary nickte und schritt auf das Grab zu.
    Owahiri ließ sie alleine.
***
     
    Ein Steinhaufen war ein Steinhaufen. Sich vorzustellen, dass er etwas mit Carl zu tun hatte, gelang Mary nicht. Eine Weile saß sie neben dem Hügel, zählte die Steine, sah den flatternden Schatten zu und spürte das Gras, das, vom Wind gebogen, über die Haut ihrer Waden strich. Nichts in ihrem Körper reagierte auf den Anblick der schwarzgrauen Steine und das anrührend schief gebundene Kreuz.
    Dass du ein Kreuz auf deinem Grab haben würdest, das hättest du dir nicht träumen lassen,
dachte sie, als sie sich erhob und zum Strand hinunterlief.
    Der Anblick der Hütte ließ Mary schlucken. Die Zunge lag trocken und pelzig in ihrem Mund. Zuerst war es ein Zupfen, ein leises Flattern im Leib, das mit jedem Schritt zunahm, und als sie vor der Hütte stand, war es zu einem reißenden Ziehen angeschwollen. Es krallte sich in den Magen, presste auf die Lunge und machte ihr Herz hart wie eine geballte Faust.
    Die Decke lag auf der Matte, das zerschnittene Hemd auf dem Boden. Und auf der Kiste, die Carl als Tisch genutzt hatte, stapelten sich verschiedene Schriften. Dicht beschriebene Blätter. Es war ihre Handschrift, doch der Inhalt der Zeilen war ihrer beider Werk. Niemand hatte die Hütte seitdem betreten, alles war nochan seinem Platz, so wie sie es zurückgelassen hatten. Sicher fürchteten die Inselbewohner den Totengeist, der hier bereits einmal zugeschlagen hatte.
    Mary krümmte sich. Etwas in ihr brach auseinander und zerfiel. Die Hände, die sie eben noch gegen den Leib gepresst hatte, fuhren vor. Packten das erste Papier und rissen es durch. Aus einem Teil wurden zwei, aus zweien wurden vier. Das Geräusch des Reißens brachte Erleichterung. Sie ließ die Papierfetzen fallen, fasste sofort nach dem nächsten Blatt und spürte, dass mit jedem Riss, mit jedem Schnipsel, der zu Boden fiel, mehr Luft in ihre Lunge strömte. Immer schneller riss und zerknüllte sie, was sie zu packen bekam. Eines der Bücher. Die Seiten regneten nieder, doch der Rücken des Einbandes wollte sich nicht von den Buchdeckeln trennen. Sie warf ihn gegen das Blätterdach. Ihr Arm fuhr über die Kiste, wischte die restlichen Schriften und die Tasche mit den Instrumenten zu Boden. Die Schröpfkugeln brachen, als sie diese mit den bloßen Händen zerdrückte. Blut und Glas vermischten sich, als die Splitter sich in ihre Haut gruben. Mary ließ die Scherben zu Boden fallen.
    Ihr Blick wurde unscharf. Kisten, gefüllt mit Gläsern, die Gläser gefüllt mit Pflanzensamen, Erd- und

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