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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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verbunden war. In dieses Tau knüpfte der Matrose, der ihm die Liste übergeben hatte, drei kleinere Balken. Wenn man es vom medizinischen Standpunkt aus betrachtete, war die Überquerung der Linie eine förderliche Maßnahme der hygienischen Zustände. Einige der Männer, die heute ins Wasser gehen würden, benötigten dringend eine anständige Wäsche. Seit knapp zwei Monaten waren sie nun unterwegs, und der eine oder andere hatte sich bisher nur widerwillig dem Waschtrog genähert.
    Carl erhob sich von der Treppe und stieg zum Achterdeck hinauf, um dem Kapitän die Liste zu übergeben.
    Sollte das Spektakel seinen Lauf nehmen.
     
    Es war der helle Klang der Glocke, der die Besatzung nur wenig später zusammenrief. Bootsmann Bennetter trat vor, die Liste in der Hand, und rief jeden einzelnen Mann auf. Jeden Namen glich er mit denen der Liste ab, um festzustellen, wer die Linie bereits überquert hatte. Und er kannte keine Gnade. »Seth Bennetter«, rief er, nachdem er die ersten Kreuze neben die Namen der Männer gesetzt hatte, die heute getauft würden.
    Der Junge wurde nach vorne gestoßen, sein Rücken war gekrümmt, und er warf angsterfüllte Blicke um sich. Ein erbärmliches Bild, das Carl anrührte.
    Bei den zuvor Aufgerufenen hatte Bennetter immer noch die Frage gestellt, ob sie die Linie jemals überquert hatten. Dieses Mal setzte er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ein Kreuz aufs Papier. Und wieder johlte die Mannschaft.

Am Äquator, 14.   September 1785
     
    Wer sich nicht rührt, spürt keine Ketten. Eine Lüge war das. Eine Lüge, dick wie ihre geschwollenen Fußgelenke. Die Kette rieb über die aufgedunsene Haut, die inzwischen wund und roh war. Mary drehte sich auf die Seite, doch der Verschlag war eng gehalten. Weder im Stehen noch im Liegen konnte sie ausreichend Platz finden.
    Smutje Henry beugte sich vor und lugte durch die Streben. Durch einen Spalt schob er eine Schale Suppe herein. »Was musstest du auch eine Dummheit solchen Ausmaßes begehen«, sagte er und schüttelte den Kopf.
    Sie versuchte, Henrys Miene zu deuten, unsicher, ob in seiner Stimme Mitleid oder Missbilligung mitschwang. Doch sein Blick war undurchdringlich.
    »Wie geht es Mr.   Myers?«, fragte sie und nahm das blauschimmelige Brot, das Henry hinterherschob. Hastig legte sie sich einen Brocken davon in den Mund.
    »Der arme Mann, man sieht ihn kaum noch an Deck.«
    »Und Sir Belham? Steht er ihm bei?«
    Leise lachte Henry auf. »Was denkst du? Mr.   Myers’ Stern ist verglüht. Sir Belham redet nicht mehr mit ihm.«
    Ihr wurde schlecht. Sie würgte den Rest Brot hinunter, die Suppe schob sie beiseite. Auf den Fingern ihrer rechten Hand hatte sich ein grindiger Ausschlag breitgemacht, dessen weißgraue Farbe dem Ton der Suppe ähnelte.
    »Iss, Mädchen, iss. Das ist die letzte Suppe. Gleich holen sie dich, und wer weiß, ob du das überstehst.«
    »Sie holen mich?« Mary sank gegen die Holzstreben. Spürte, wie Splitter durch den Stoff ihres Hemdes trieben.
    Henry nickte, mit einem Mal sah sein Blick mitleidig aus. »Ja, sie haben die Striemen der Katze bereits geölt   …«
    Abrupt hob er den Kopf. Auch Mary hörte die Schritte und sah mehrere Seesoldaten durch das Deck auf ihren Verschlag zukommen, ihnen voran Lukas. Nichts an ihm erinnerte mehr an den Jungen mit dem Dudelsack, der Lieder spielte, die das Herz berührten.
    Er grinste.
    Ein weißes Blecken seiner Zähne.
    Henry trat beiseite, damit der Seesoldat den Verschlag öffnen konnte.
    Der Atem jagte in rasselnden Stößen durch Marys Lungen, und sie drückte sich fester gegen die Holzstreben.
    Lukas streckte seinen Arm vor, ein behaarter Männerarm, der auf sie zufuhr.
    Ein Schlag traf sie.
    »Du kommst jetzt mit.« Franklin hatte ihre Schulter gepackt und rüttelte sie. »Du kannst nicht den ganzen Tag in der Koje vertändeln. Irgendwann besteht Doc Havenport darauf, dass du vorstellig wirst.«
    Sein Gesicht schwebte vor ihrem. Die Sonne hatte ihm die Stirn, die Wangen und allem voran den Nasenrücken verbrannt. In weißen Fetzen löste sich die Haut.
    »Bist du wach?« Erst als Franklin sich vergewissert hatte, dass Mary nicht wieder einschlief, ließ er von ihr ab. Drehte sich zu seiner Seekiste, öffnete sie und wühlte darin herum.
    Bleischwer lag Mary der Traum auf dem Gemüt.
    Langsam tastete sie über die Decke und fuhr mit den Fingern über das Holz der Koje.
    Es war die Kajüte.
    Es war ihre Koje, und vor der stand Franklin.
    Sie hatte nur

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