Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
fühlte die Feuchtigkeit der Frucht, atmete den Geruch ein. Speichel schoss ihr in den Mund, im Gedanken daran, die vielbeschworene Süße zu schmecken. Porridge, Dörrfleisch, Zwieback, Sauerkraut. Woche um Woche. Und nun der überwältigende Duft dieser Frucht.
Ihr Zögern schien die Fremde zu belustigen. Sie lachte. Weiße Zähne glänzten auf, und mit der Hand deutete sie an, Mary solle die Frucht verspeisen.
Die Augen geschlossen, biss sie zu. Das Fruchtfleisch war nass und süß, die glatten Fasern zerfielen auf der gierenden Zunge. Ein Fest für den Gaumen.
Mary öffnete die Augen.
Ein zufriedener Ausdruck huschte über das Gesicht der Frau, die ihr die halbgeöffnete Frucht in die Hand legte und zu einer Hütte, die hinter dem Buschwerk zu erahnen war, verschwand.
Am Strand knirschten die schwarzgrauen Steine unter jedem Schritt. Im Schatten einer Palme ließ Mary sich nieder, lehnte sich gegen den Stamm und beobachtete die
Sailing Queen
. Sie schaukelte mit den Wellen auf und ab. Immer wieder wurde die Pinasse zwischen Strand und Schiff hin und her gerudert, um Mitglieder der Mannschaft an Land oder zurück an Bord zu bringen. In diesem Moment bestiegen zwei Matrosen das kleine Beiboot. Sie trugen einen Beutel bei sich, den sie nur mit Mühe bändigen konnten. Der derbe Stoff beulte sich, ruckte mal hier, zuckte mal dort.
Was die Männer da wohl anschleppen
, fragte sie sich kurz und sah Franklin vor ihrem inneren Auge auftauchen. Er hatte sie angeschleppt, ohne zu ahnen, was er sich zur Beute gemacht hatte.
Den warmen Sand des afrikanischen Bodens hatte sie unter ihren Füßen gespürt, die Süße der frisch gepflückten Orange geschmeckt, den Geruch des Unbekannten in sich aufgenommen und die Botanisiertrommel gefüllt.
Sie war bereit.
Am Abend würde sie an Bord zurückgehen und sich in das Unvermeidliche fügen.
Ein wenig abseits saß Kyle Bennetter. Er sah nicht auf, sein Interesse galt seinen Söhnen. Im schwindenden Tageslicht zeigte der Vater den Jungen Seeknoten, die sie eifrig mit ihren Tauen nachbanden. Selbst aus der Entfernung konnte Mary erkennen, dass Nat, der dicht beim Vater saß, Rücksicht auf den Bruder nahm.Erst wenn der Kleine den Knoten gebunden hatte, präsentierte er auch den seinen. So hielten die Jungen dem Vater zeitgleich ihre Arbeiten hin, und Bennetter lächelte. Zufrieden sah er aus, als er über die flachsgoldenen Haarschöpfe strich.
Nat sprang auf, als ein Vogel über das Wasser flog. Er ergriff einen Stein, doch als er zum Zielen ansetzte, war der Vogel über seinen Kopf hinweggeschossen und verschwunden. Den Wurf flach angesetzt, ließ Nat den Stein zwei-, dreimal über die Oberfläche des Wassers springen, erst dann versank er in der Tiefe.
Atlantischer Ozean, 13. September 1785
»Du musst den Affen freikaufen.«
Seth schaute auf und schirmte seine Augen mit der Hand ab. »Ich denke, ich muss mich freikaufen.«
»Ja, aber du musst auch den Affen freikaufen.« Dan reckte den Brustkorb. Sicherlich hoffte er, dadurch männlicher auszusehen, was ihm auch gelang. Verärgert drehte Seth den Kopf beiseite und beobachtete die Tropfen, die auf den Planken zerplatzten. Seit sie San Jago verlassen hatten, regnete es unentwegt. »Warum muss ich den Affen freikaufen?«, fragte er.
Dan duckte sich unter eines der geölten Zelttücher, die der Kapitän auf dem Deck hatte aufspannen lassen, um den Regen aufzufangen. Er stieß dabei gegen die Plane, und ein Schwall Wasser klatschte neben Seth auf den Boden.
Du Trampel
, wollte er rufen,
verschwendest unser Trinkwasser, weil ein paar Tröpfchen deinen Leib berühren
, doch er schwieg und wartete auf eine Antwort.
»Die Männer erstellen gerade eine Liste, wer bereits den Äquator überquert hat und wer nicht. Die Salztaufe erhält, wer die Linie noch nicht überquert hat. Tiere zählen auch dazu. Und euer blöder Affe wird bisher kaum die Linie überquert haben, also musst du ihn freikaufen.«
Der Affe hockte in der Ecke des Käfigs und schaute Seth an. Niedliche Augen hatte er. Wie schwarze Knöpfe, die auf Hochglanz poliert waren. Er war kleiner als eine Katze, und die Farbedes weichen Felles war, je nachdem, wie das Licht darauf fiel, mal grünlich, dann wieder bräunlich. Seth fühlte sich unbehaglich, wie immer, wenn Dan in seiner Nähe war. Jedes Mal schrie dann in seinem Kopf eine Stimme auf, er solle auf der Hut sein. Und wieder einmal mehr verstand er nicht, was hier ausgeheckt wurde. Aber sobald Dan
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