Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
Vom Netzwerk:
Doch ihr Blick hing in Carls Nacken, auf den feinen Härchen, in denen sich kleine Schweißperlen verfangen hatten. Etwas in ihr lachte hell und glücklich auf.
Sollten wir verhaftet werden,
dachte sie,
dann möchte ich mir wenigstens eine Zelle mir dir teilen.

Plymouth, 2.   November 1785
     
    Ein leises Knarren ließ Landon von seinen Papieren aufschauen. Ein unerfreulicher Vorgang, der auf dem Schreibtisch vor ihm lag – ein neuer Ladekran musste angeschafft werden, eine Ausgabe, die er noch einige Zeit verschieben zu können gehofft hatte. Dankbar über ein wenig Ablenkung, hielt er bereitwillig inne und lauschte. Die Diele vor der Tür, sie knarrte. Irgendwer musste vor dem Zimmer stehen. Ein Klopfen folgte, der Türgriff wurde heruntergedrückt.
    Das Gesicht seines Kontorvorstehers schob sich durch einen schmalen Spalt. »Ihr habt Besuch, Mr.   Middleton wünscht Euch zu sprechen.«
    Landon nickte nur, erhob sich und trat ans Fenster. Ungewöhnlich früh hielt der Winter in diesem Jahr Einzug, hatte es in der Nacht doch bereits das erste Mal geschneit. Inzwischen waren die Flocken in einen Dauerregen übergegangen und hatten die Stadt in eine graue Schicht aus Matsch und Schlamm gehüllt. Der weiße Zauber des Morgens war zerstört.
    Der alte Mann wird mich nicht grundlos im Kontor aufsuchen,
dachte Landon, und sein Puls beschleunigte sich.
    William Middleton trug einen Beutel bei sich, vielmehr hielt er ihn regelrecht umklammert. »Wir hatten vereinbart, dass wir einander informieren, wenn sich Neues zuträgt«, begann er formlos und öffnete den Beutel. Einen Lumpen zog er hervor, langsam,als könne er an ihm etwas zerstören, und hielt ihn in die Höhe.
    Wird der Alte jetzt wunderlich?
Doch William Middletons Miene war konzentriert, allenfalls ein wenig blass. Nichts an ihm wirkte überspannt. Dann erfasste Landons Auge den Umriss: Der Lumpen war ein Kleid, zerrissen und derart verschmutzt, dass der grünliche Farbton kaum auszumachen war.
    William stand da und hielt den Stoff in die Höhe, nur seine Arme begannen zu zittern. Fragend blickte er Landon an.
    »Ja, Ihr könnt das Kleid auf dem Tisch ablegen«, sagte dieser.
    Nochmals griff der alte Mann in den Beutel, ein weiterer Stofffetzen folgte, den er zu dem anderen Lumpen legte. Sand krümelte über die Platte.
    Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, schob Landon die Finger ineinander.
    »Mrs.   Fincher bat, bevor sie abreiste, darum, den Garten bestellen zu lassen. Sie meinte, es würde den Verkauf erleichtern, wenn er nicht voller Unkraut sei. Beim Umgraben entdeckte der Gärtner«, William zeigte auf den Stoffhaufen, »das da.«
    »Was ist das?« Landon spürte das sachte Beben seiner Stimmbänder.
    »Es ist eines von Marys Kleidern und ein Laken.« William beugte sich vor und schob die Falten des Lakens auseinander. Ein dunkles Knäuel kam zum Vorschein. »Und das hier, das ist das Merkwürdigste: Es sind Haare. Ihre Haare, nehme ich an.«
    Ein filziger Knoten, der mit Erdklumpen durchsetzt war. Langsam trat Landon zurück, tastete nach seinem Stuhl und setzte sich auf die Kante. Er schüttelte den Kopf.
    »Ihr müsst den Constable informieren. Nicht mich.«
    »Das war kein Verbrechen.«
    »Was denn? Wollt Ihr sagen, dass sie sich in aller Seelenruhe eigenhändig das Haar geschnitten hat, bevor sie verschwunden ist?«
    »Ja! Bitte haltet mich nicht für überspannt, wenn ich erneut davon anfange. Aber ich bin mir sicher, dass sie an Bord eines Schiffes gegangen ist. Das hier unterstreicht diese Annahme. Bisher sind wir nur davon ausgegangen, dass sie als Frau an Bord gegangen ist.« Williams Stimme war zu einem Flüstern geworden. Unsicher blickte er kurz zur geschlossenen Tür und wandte sich dann wieder Landon zu. »Es ist noch schlimmer als das: Sie hat sich das Haar geschnitten. Sie wird als Mann verkleidet an der Reise teilnehmen.«
    »Ihr wisst, dass ich Euch sehr schätze, aber ich will das nicht glauben. Das kann nicht sein.« Immer wieder hatte Landon sich in letzter Zeit der Vorstellung hingegeben, Mary könne nach Bath gefahren sein, um dort in Begleitung einer Freundin ein wenig Zerstreuung auf langen Spaziergängen, beim Besuch von Konzerten, Ausstellungen und Theatervorstellungen zu suchen. Geendet hatte sein Tagtraum ein ums andere Mal damit, dass sie erholt und aufgeräumter Stimmung zurückkehrte. Jeder andere Gedanke schien unerträglich zu sein. »Woher wollt Ihr die Gewissheit nehmen, dass es sich nicht um ein Verbrechen

Weitere Kostenlose Bücher