Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
nahm die Müdigkeit zu. Gemeinsam hatten sie am Abend die Vorbereitungen getroffen, um gegen Mitternacht das Schiff zu verlassen. Niemand von ihnen hatte in dieser Nacht ein Auge zugemacht.
»Was hat Kapitän Taylor gesagt?«, fragte Franklin und biss in ein Brotstück. Aufmerksam schaute er Carl an.
»Dass wir nicht sonderlich viel Proviant vom Statthalter erwarten können. Wahrscheinlich wird in erster Linie Wasser und Rum geladen. Sehr erfolgreich waren seine Verhandlungen nicht.«
»Du weißt genau, was ich meine. Was hat der Kapitän zu deinen Plänen gesagt? Zu unserem nächtlichen Ausflug?«
»Was soll er gesagt haben? Er hat sich dagegen ausgesprochen. Im Ernstfall hat er von unserem Vorhaben nie etwas gehört. Das bedeutet, wir haben das Schiff ohne seine Genehmigung verlassen.«
»Was meinst du mit Ernstfall?«
»Naja, falls wir inhaftiert werden. Soll vorkommen.«
Ein Krumen blieb Mary im Hals stecken. Sie hustete.
»Keine Sorge«, Franklin reichte ihr das Wasser, »wir werden schon wieder unentdeckt an Bord kommen.«
»Es genügt, wenn wir am späten Vormittag aufbrechen. Es ist wichtig, dass der Morgentau getrocknet ist, bevor wir die Pflanzen schneiden«, sagte Carl. Der Gedanke an eine Inhaftierung schien ihn in keinerlei Weise zu beunruhigen. »Das heißt, wir können uns gleich noch ein wenig ausruhen. Ich würde vorschlagen, dassjeder eine Wachschicht übernimmt.« Er zog seine Taschenuhr aus der Hose und legte sie in die Mitte. »Gern mache ich den Anfang.«
»Marc, wir haben einfache Spielregeln bei der Exkursion.« Für einen Moment sah Carl ein wenig drein wie ihr Vater, wenn sie einst gemeinsam aufgebrochen waren. Mary unterdrückte ein Lächeln.
»Wir entfernen uns nie aus der Sichtweite des anderen. Franklin hat vorgeschlagen, dass wir dich mitnehmen, um heute so effektiv wie möglich zu arbeiten. Wir teilen uns die Arbeit. Er nimmt sich die krautigen Gewächse vor, ich kümmere mich um die holzigen. Ein besonderes Augenmerk werden wir auf die Aufsitzer legen, die Farne und Orchideen. Und du, du zeichnest, so schnell und genau wie möglich. Aus Zeitgründen bleibt die Vogel- und Insektenwelt heute weitestgehend ohne Bedeutung.«
Franklin senkte den Kopf und polierte sein Messer. Ein leises Zucken umspielte seine Mundwinkel.
Ich habe ihm nie gesagt, dass ich darunter leide, dass ich ausschließlich an Bord arbeiten soll. Woher weiß er das?,
fragte sie sich kurz und runzelte die Brauen.
Carl, dem der Blickwechsel entging, war weiterhin in seine Ausführungen vertieft und wollte kein Ende finden. »Bei größeren Pflanzen machen wir einen sauberen Schnitt an einer exemplarischen Stelle der Sprossachse. Alles andere wird so tief wie möglich am Pflanzengrund geschnitten. Lassen sich die Wurzeln aus dem Boden heben, sind sie unbedingt mitzuführen, aber nicht zwangsläufig. Eine Kategorisierung oder Bestimmung kann meist auch so vorgenommen werden.«
»Ich nehme an, es werden von jeder Pflanze ein oder zwei Exemplare mehr mitgenommen als nötig? Falls es Schwierigkeiten beim Pressen gibt?«, warf Mary ein.
Carl nickte. »Da wir frühestens in der Nacht an Bord zurückkehren können, müssen wir damit rechnen, dass einige Pflanzenbis dahin unwiederbringlich zusammengefallen und für den Pressvorgang ungeeignet sind. Deshalb wirst du einen Großteil skizzieren müssen. Mache dir genaue Angaben zu den Farben und Farbverläufen, es wird nicht viel Zeit bleiben, jedenfalls nicht genug Zeit, um ins Detail zu gehen. Und falls dir außergewöhnliche Pflanzen auffallen, nimm sie mit. An Bord können wir immer noch einen Abgleich machen, inwiefern es Doppelungen gibt.«
Carl und Franklin streiften sich die Handschuhe über und setzten sich in Bewegung.
Ich bin auf einem anderen Kontinent. Vor mir laufen zwei Wissenschaftler, die mich auf ihre Exkursion mitgenommen haben. Noch immer kann ich es nicht glauben, noch immer will der Gedanke sich nicht fügen: Ich bin einer von ihnen.
Mary schluckte.
Ich bin angekommen.
Sie sog die blütensüße Luft ein und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen.
Schon nach wenigen Schritten beugte sich Franklin vor, bog die Äste einer Pflanze zur Seite und setzte den ersten Schnitt. Nur einen Atemzug später rief Carl nach ihr.
»Marc, hiermit kannst du anfangen«, sagte er, beugte sich vor und wies auf ein Bananengewächs, dessen herrlicher Blütenstand dem einer Strelitzie ähnelte.
Mary ließ sich auf dem Boden nieder, um die Skizze anzufertigen.
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