Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Zunge.Während sie sich auf die Koje schob, riss sie seinen Oberkörper in die Höhe, doch seine Augenlider sackten nach unten. Der Atem rasselte.
»Nein, halt durch. Halt durch. Halt durch.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, heiser und panisch.
Franklins Kopf kippte vor. Die Pastille rollte aus seinem Mund.
»Carl«, schrie sie und hämmerte mit einer Hand gegen die Holzwand zur Nachbarskajüte. Peacock schlief nebenan. Vielleicht würde wenigstens er sie hören. Vielleicht würde er ihr helfen können. Mit der anderen Hand versuchte sie, Franklin aufrecht zu halten.
Er entglitt ihr, sackte hintenüber und schlug mit dem Kopf gegen das Holz.
Der Puls dröhnte Mary in den Ohren, als wollte der Schädel bersten. Tränen tropften auf ihre Hand, als sie sich vorbeugte und in Franklins Locken fasste. Sein Gesicht zu sich drehte.
Seine Augen standen offen. Starr und leer.
Kein Wimpernschlag beendete das grausige Bild.
Franklin
, brüllte es in ihr auf.
Nein, du kannst nicht gehen. Du kannst nicht.
Ihr Körper wölbte und krümmte sich. Zog sich in Krämpfen zusammen, drängte den Atem pumpend über ihre Lippen, dass er in ein kehliges Schluchzen zerfiel. Das nasse Gesicht an Franklins Hals gepresst, schlang sie die Arme um ihn und zog ihn an sich. Sein Arm rutschte schlaff zur Seite und blieb auf ihr liegen.
Keine Öllampe war vonnöten. Ihre Beine wussten trotz der Dunkelheit, wohin sie sie zu tragen hatten. Schritt für Schritt kam sie der angelehnten Tür näher, ein schwacher Lichtschein fiel in den Flur. In der Kajüte war es still. Die Hand schien zu wissen, wie die Tür zu öffnen war. Nichts in ihr, weder Hirn noch Herz, konnte mehr einen Befehl erteilen.
Carl, wo bist du?
Wir haben ihn verloren.
Franklin.
Carl, hilf mir.
Sie schob die Tür auf. Carl saß auf dem Rand der Koje und hob den Kopf. Mary schaute an ihm vorbei. Zusammengerollt lag der Schiffsarzt da, das Gesicht im Krampf erstarrt. Ihr Blick wanderte zu Carl zurück, und sie antwortete mit einem Kopfschütteln auf die Frage, die wortlos zwischen ihnen stand.
***
Er war dankbar, dass es diesen einen kurzen Moment gab, in dem er nichts spürte. Nichts, außer einer Leere, die fast wohltuend war. Erst dann tauchte das Bild in seinem Kopf auf: Zuerst sah er den Mund in einem runden Gesicht, einen aufgerissenen Mund, und doch zu klein, dem Schmerz genügend Raum zu geben.
Sophie Myers.
Eine von vielen Müttern, die die Nachricht überbracht bekam, dass ihr Sohn nicht mehr von einer Seefahrt zurückkehren würde. Franklins Schwester schob sich ins Bild, zwei jüngere Brüder und der Vater folgten. Auf dem diesjährigen Sommerfest der Royal Society hatte er Familie Myers kennengelernt. Wie sollte er ihnen je wieder gegenübertreten? Carls Augen brannten, langsam zog er die Decke über Doc Havenports Leiche.
»Marc«, sagte er leise, »wir müssen jetzt prüfen, ob noch jemand im Sterben liegt. Noch wissen wir nicht, woran die beiden verstorben sind. Ist es eine Epidemie, müssen wir umgehend handeln.«
Ihre Augen waren blind vor Tränen.
Ob sie mich verstanden hat,
fragte er sich.
Sie muss denken, dass ich herzlos bin. Aber wir haben keine Wahl, denn wenn es nicht der Fisch war, bleibt uns keine Zeit. Was uns aber bleibt, ist unser Schmerz.
Er zögerte einen Moment, legte dann aber doch die Hand aufihre Schulter und führte sie zur Tür. »Lauf und hol den Smutje. Ich benachrichtige derweil die anderen. Wir treffen uns gleich in der Kapitänskajüte.«
Smutje Henrys Gesicht war blutrot, und der Schweiß rann ihm in die Augen. Er wischte mit dem Arm über sein Gesicht, doch augenblicklich entstanden die nächsten Schweißtropfen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, und Carl fühlte Mitleid. Seine Stimme klang nachsichtig, als er die Frage wiederholte: »Hast du die Fischreste noch?«
»Nein, die Reste werden jeden Abend über Bord gekippt, damit die Ratten nicht darangehen.«
»Wie sah der Fisch aus?«
Henry runzelte die Stirn. »Rundlich und gedrungen.«
»Hatte der Fisch Zähne?«
Er nickte und wischte wieder mit dem Arm über sein Gesicht.
»Hatte der Fisch Schuppen?«
Henry schüttelte den Kopf.
»Was?« Mary sprang aufgebracht in die Höhe. »Henry, du hast einen Tetraodon serviert?«
Halt an dich,
flehte Carl innerlich, dem der Ton ihrer Stimme auffällig hoch erschien. Er sah sich um, doch weder der Ausbruch noch die Tonlage schien Argwohn zu erregen.
Bitte, beherrsch dich und werd jetzt nicht zur
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