Vom Aussteigen und Ankommen
in einen nahen Biergarten. Wegen des Nieselregens waren die Tische und Bäume verwaist, sie standen traurig da wie Ruderboote in einem Seehafen im Herbst. Auf der Toilette putzten wir uns die Zähne. Draußen saßen immerhin drei Zuschauer in Regenjacken unter dem Dach der alten Bäume und sahen auf einer Leinwand das Fußballspiel Brasilien gegen Nordkorea. Auch wir guckten uns die zweite Halbzeit an. Die Nordkoreaner spielten, so sagte der Kommentator, in ihrem Heimatland bei Fußballvereinen, die »Ministerium für Staatssicherheit« oder »25. April« hießen, nach dem Gründungstag der Armee. Sicher fanden es in diesem Moment die Parteifunktionäre vor ihren nordkoreanischen Schwarzweißfernsehern auch merkwürdig, dass in Europa Fußballvereine »Red Bull« oder »Bayer« hießen, und die Funktionäre dachten wohl: »Finsterer Kapitalismus!«
Ich fragte den Elfen, ob ich ihn am nächsten Tag zum Essen einladen dürfe. Er lehnte das entschlossen ab. Damit würden wir den Geldfluss weiter ankurbeln, und er könne es nicht gutheißen, wenn im Lokal Kellner arbeiteten, die dies nicht deswegen täten, weil sie uns gern bedienten, sondern für Geld.
Wir gingen im Dunkeln zum Zelt. Durch die Büsche schwebten Glühwürmchen, sie leuchteten grün und flogen so gerade durch die Luft, als ziehe sie ein Waldgeist, der seiner Geliebten eine Perlenkette schenken wollte, auf eine Nylonschnur auf. Ich beleuchtete das Zelt mit meiner Taschenlampe. Seine Außenhaut und der Eingang waren voller Nacktschnecken.
Um halb sechs zwitscherten die Vögel, als seien sie von Sinnen. Wir schlüpften aus dem Zelt heraus. Pavlik versteckte den Rucksack, das Zelt blieb stehen. Wir gingen los, um heute rechtzeitig die Klosterdusche zu erreichen.
Urwald, Bäche, Radfahrer, Wege, Regen. Meine Füße schmerz ten. Nach zwei Stunden erreichten wir Sankt Bonifatius. Es war acht Uhr, und es gab heiße Dampfnudeln mit Vanillesoße, Früchtetee und Joghurts. Pavlik holte sich eine Dusch- und eine Kleidermarke. Dem Zivildienstleistenden, der einen seltsamen Oberlippenbart trug und die Marken vergab, erzählte der Elf von dem Hintergrund seiner Bedürftigkeit. Es handle sich um ein Experiment, und so weiter.
Was würde er wohl in zehn Jahren sagen? Jetzt wirkte er noch jugendlich, und man nahm ihm seinen Idealismus ab, doch irgendwann würde jeder ihn für einen Trinker halten, der er ja niemals werden würde. Man gab ihm einen Termin zum Duschen in einer halben Stunde. Pavlik bot dem Zivildienstleistenden, wie immer, wenn er Hilfe annahm, an, dass er selbst auch gern bei irgendeiner Arbeit mithelfen wolle, doch, wie üblich in der professionellen Armenhilfe, war das nicht vorgesehen.
Einige Gesichter erkannte ich aus der Bahnhofsmission wieder. Ein Mann, der an unserem Tisch saß, hatte seinen Kopf auf seine auf dem Tisch verschränkten Arme gelegt und schlief. Ein junger Mann mit ganz entrücktem Blick und halb verfaulten Vorderzähnen saß mir schräg gegenüber. Er zeichnete mit einem Kugelschreiber Porträts anderer Essensgäste. Wenn eins fertig war, ging er stolz wie ein kleines Kind zum Porträtierten, um ihm das Werk zu zeigen. Die Leute quittierten seine Kunst mit schiefen Blicken oder unbeteiligtem Nicken. Dann ging der Mann zurück und zeichnete den nächsten Gezeichneten. Die Gesichter traf er recht präzise. Sie hatten etwas Karikaturistisches.
Nach der Dampfnudel gab es Erbsensuppe. Ich sollte für Pavlik eine mitbringen, wenn sie vegan sei. Der Koch sagte leicht gereizt, ja, sie sei vegetarisch. Ich holte zwei Teller Suppe, doch darin schwammen Speckstücke. Pavlik sagte: »Igitt. Wenn ich das äße, wäre es für mich so eklig, wie Menschenfleisch zu essen.« Ich aß also beide Teller der Menschenfleischsuppe, morgens um neun nach einer Dampfnudel, zwei Actimel und einer Banane, nachdem es gestern fast nichts zu essen gegeben hatte außer Puffreis und einem Friedhofskäse. Mein Magen fühlte sich an wie mit Steinen gestopft.
»Pavlik«, fragte ich, »hast du manchmal das Gefühl, mehr zu nehmen als zu geben?«
Nein, sagte er, heute nehme er zwar Kleider und Dampfnudeln, aber dafür helfe er der Menschheit mit seinen Gedanken über das Geld, in den nächsten dreitausend Jahren in Harmonie leben zu können, ohne all die alten Fehler zu wiederholen. Im Verzicht darauf, Schlechtes zu tun, sah er einen wertvolleren Beitrag als den der Leute, die ihre Rechnungen pünktlich zahlten, dann aber einen Berg Müll hinterließen.
Pavlik
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