Vom Aussteigen und Ankommen
sehr engen Fokus auf ihre Aufgabe hatten und darüber hinaus keinerlei Verantwortung für die Menschen. Ein Arzt etwa behandelte einen Obdachlosen, der gestürzt war und sich ein Bein gebrochen hatte, und schickte ihn dann wieder raus, wo er weitertrank und wieder stürzte. Und von den Mitarbeitern der Suppenküche seien die Armen zwar mit Suppe versorgt worden, aber behandelt worden wie Häftlinge.
Er hatte in diesem Sommer sehr viel Zeit, um nachzudenken. Er las über Yoga, den Maya-Kalender, Buddhismus, Computerprogrammiersprachen. Die Gottheit Shiva inspirierte ihn. Seine Brille ging kaputt. Und er lebte, da er kein Geld mehr in die Hand nahm, ein halbes Jahr ohne Sehhilfe. Seine Sehschwäche betrug minus vier, und erst als sein Vater ihn einmal in San Francisco besuchte, brachte er seinem Sohn eine neue Brille als Geschenk mit. Derweil hatte Pawels Bruder in Polen ausgerechnet als Kreditvermittler zu arbeiten begonnen. Irgendwann in diesem Sommer ohne Brille im Park kam Pavlik die Erleuchtung, in der viele Fragen ihre Lösung fanden: Die Menschheit müsste das Geld abschaffen, aus freiwilliger Einsicht aller Menschen, und müsste ihre Volkswirtschaften anders organisieren. Dafür wollte er fortan werben.
Er hatte das Geld schuldig gesprochen, und nicht die Menschen für ihre Verantwortungslosigkeit, für ihren Egoismus oder ihre Bequemlichkeit.
Als die Abenddämmerung begonnen hatte, erreichten wir das Versteck. Das Waldstück lag hinter einem Holzpavillon an einem Bachufer. Der Bach mündete weiter hinten in einen Wasserfall, der aus der Ferne rauschte. Der Elf raschelte im Halbdunkel durch die Büsche wie ein Reh durchs Unterholz. Er war darauf spezialisiert, seinen Besitz im Gebüsch zu verstecken, so wie Hunde ihre Knochen vergraben. Er kam mit einem riesigen Rucksack zurück, der in einer wasserfesten Plane verpackt war. Die war mit Nacktschnecken gespickt.
»Did you ever sleep on a bench?«, fragte er.
»No, never.«
»No? You will love it. Once you ever start with it you can’t stop.«
Da es also dämmerte, bauten wir unser Zelt heute nicht auf, sondern begannen unsere Sachen unter dem Holzdach des Pavillons auszubreiten. Pavlik versprühte wahrhaft amerikanischen Enthusiasmus. Wir würden also auf der Parkbank schlafen. Amazing, lovely, I will truly love it.
Die Bank lief rund um einen Pfeiler und war an keiner Stelle lang genug, als dass man sich hätte ausgestreckt hinlegen können. Ich schlief daher lieber auf dem steinernen, etwas feuchten Boden. Der Elf schlief auf der Holzbank. Er lag in einer Embryonalstellung gekrümmt um den Pfeiler, der das Dach trug.
Pavliks Idealwirtschaft war die Freeconomy oder Peer Economy: Die Menschen machen Arbeit für andere, wenn sie Lust darauf haben oder weil sie eine Notwendigkeit erkennen, nicht aber, weil sie Geld brauchen. Daher lehnte Pavlik auch alternative Währungen ab, etwa den Uckertaler. Er wollte nicht, dass jemand Marmelade deswegen macht, um dafür Taler zu bekommen, sondern weil er gern Marmelade macht, weil er das gut kann und einsieht, dass Marmelade notwendig und gut ist. Niemand sollte mehr Jobs machen, in die er sein Herz nicht einbringt. Für unangenehme Arbeiten, erwartete Pavlik, werde die Anerkennung in der Peer Economy steigen. Das Klo müsse erst mal genug stinken, bis jemand die Notwendigkeit sehe, es zu putzen. Das Geld verbieten würde er aber nicht wollen, allein schon, weil er keinen Staat wolle, der dies tun könnte. Er lehnte ja »künstliche« Gebilde wie Staaten ab.
Am Morgen wurde ich erst gegen sieben Uhr wach. Der Elf saß schon auf der Bank und schnitt eine Melone auf. Er hatte alle Sachen gepackt und versteckt und freute sich auf die Dusche im Bonifatiuskloster. Jogger und Hunde liefen an uns vorbei. Wir aßen die überreife, aber nicht verdorbene Melone und Puff reis-Schoko-Riegel. Sie taten so gut.
Als wir Schwabing erreichten, stand die Kirchenuhr auf halb neun. Es war zu spät, um das Kloster rechtzeitig zu erreichen. Meine Langschläferei war schuld daran, dass der Elf schmutzig bleiben musste. Also setzten wir uns ein neues Ziel: Mittagessen finden. Ich schlug die Mensa der Universität vor, von der wusste ich, dass die Studenten dort ihre Tabletts nach dem Essen auf Fließbänder stellten, die in die Spülküche führten. Ich dachte, wir könnten an diesen Bändern darauf warten, dass halbvolle Teller vorbeirollen und wir aus ihnen Nahrung fischen wie Bären aufsteigende Lachse aus einem Wildbach.
Wir
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