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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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Schüttelfrost halb über die Schwelle gesprungen war, kam die Lebensenergie zurück.« Er schnaufte nach jedem Satz, manchmal musste er einige Atemzüge lang röcheln, um dann weitersprechen zu können. »Ich glaube an Wunder. So gut wie jetzt hatte ich es noch nie. Man hat mich von allen Aufgaben freigestellt, ich habe nichts mehr zu tun, außer zu atmen, vierundzwanzig Stunden am Tag.« Seine Lunge ächzte beim Einatmen wie ein poröser Blasebalg. »Danke für eure Wertschätzung, danke. Jetzt darf ich wieder bei euch sein. Ihr seid mein Lebenselixier.« Das war rührend und prätentiös zugleich. Der wilde Wolf. Wir waren sein Lebenselixier.
    Im Seminarraum wurde ein gelber Papierbogen ausgerollt, auf dem das politische System des Dorfs aufgezeichnet war. Wie konnte man sich für ein so kleines Dorf ein so kompliziertes System ausdenken? Es gab mehrere Räte. Die Ratsmitglieder hatten diese Arbeit in der Regel ehrenamtlich zu machen. Neulich hatten die Räte etwa darüber debattiert, wie mit dem Problem des Schwalbenkots auf einem öffentlichen Platz umgegangen werden sollte. Netze anbringen? Putzdienst organisieren? Die schwangere Simone referierte detailliert über die Aufgaben der Räte, und der Gitarrenmann sagte manchmal auch etwas dazu, man merkte ihnen an, dass es ihnen Freude machte, Fremden von ihrem Lebenskonzept zu erzählen. In der kurzen Zeit von dreizehn Jahren, die das Ökodorf Sieben Linden bestand, hatte sich schon eine eigene Kultur entwickelt.
    Zwischen den Referaten besichtigten wir einzelne Nachbarschaften. Manche sahen aus wie Anthroposophenhäuser, rund und biologisch-dynamisch, eine Hausgruppe entstand gerade neu, Bauarbeiter stapelten Strohballen zu einer Wand. Eine Bauwagensiedlung sah aus wie eine Forschungsstation am Polarkreis, die Wagen waren aus lackierten Brettern, und blitzblanke Schornsteine stachen aus ihnen rauchend zum Himmel heraus. Einige Teilnehmer unserer Kennenlerngruppe interessierten sich ernsthaft dafür hierherzuziehen, andere waren vage an Lebensalternativen interessiert, Dritte wollten anderswo ein Ökodorf gründen.
    Die meisten Dorfbewohner waren älter als vierzig, auch viele Kinder lebten hier. Doch in der Altersgruppe von fünfzehn bis fünfunddreißig Jahren hatte das Dorf kaum einen Bewohner außer einigen jungen Leuten, die ein freiwilliges ökologisches Jahr machten. Die ersten hier geborenen Kinder kamen gerade erst in die Pubertät. Manche hatten in diesem Alter Probleme mit ihren Öko-Eltern. Die Tochter eines Mannes schminkte sich, wie dieser erzählte, jeden Morgen fast eine Stunde vor Schulbeginn. Ein Junge bat seine Mutter, wenn Schulfreunde zu Besuch waren, ausnahmsweise mal »irgendwas Normales« zu kochen.
    Etwa neunzig Erwachsene und dreißig Kinder lebten in Sieben Linden, in einem Jahr zogen etwa fünf bis zehn weg und ebenso viele wieder neu hinzu. Die Population blieb in den letzten Jahren konstant. Hier galt ein Zuzug nicht als Lebensentscheidung. Fast alle arbeiteten im Ökodorf. Eine Siedlungsgenossenschaft besaß das Land, einer Wohnungsgenossenschaft gehörten die Immobilien, und zur Finanzierung des Kollektivs musste jeder beitragen: Wer nach Sieben Linden ziehen wollte, musste Genossenschaftsanteile für fast zwanzigtausend Euro kaufen. Jeder hatte sein eigenes Einkommen, nur ein Teil des Geldes ging an das Gemeinwesen. Gemeinschaftsmitglieder, die in einem Haus wohnten, zahlten rund fünfhundert Euro monatlich für Vollverpflegung und Warmmiete. Zudem sollte jeder einige Stunden im Monat ehrenamtlich für die Gemeinschaft arbeiten: Geschirr spülen, fegen, Klos leeren, den Sonntagskaffee vorbereiten, die Bibliothek betreuen oder sich in politischen Räten engagieren. Gemeinschaft hieß nicht nur, dass immer jemand zum Kartenspielen da war, sondern sie verlangte, eine Menge Dienste wahrzunehmen und Regeln einzuhalten. Eine Wehrpflicht gab es nicht.
    Der Weg zur Dorfzugehörigkeit war überdies nicht leicht. Wer Mitglied werden wollte, musste in der Regel Vorstellrunden durchlaufen und eine Probezeit im Dorf verbringen. Danach stimmte die Dorfgemeinschaft darüber ab, ob der Bewohner bleiben darf. Die Gruppe, von der sehr wahrscheinlich einige schon gegen die Abschiebung von Asylbewerbern protestiert hatten, nahm selbst längst nicht jeden auf.
    Am nächsten Morgen besuchte ich Wolf, dessen Lebenselixier ich seit dem Vorabend war. Der wilde Wolf lebte im Globolo, so nannte sich eine Nachbarschaft, die aus mehreren Bauwagen bestand. In

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