Vom Aussteigen und Ankommen
Strohpolis.
Ulkige Ute, grüner Gisi
Die E-Mail, die im Frühjahr vom »Bildungsreferat« des Ökodorfs Sieben Linden gekommen war, ähnelte in der Diktion einem Elternbrief, den Schüler vor einer Klassenfahrt bekamen:
Lieber Jan,
vielen Dank für Deine Anmeldung zu den »Projekt-Interessierten-Tagen« vom 7. bis 9. Mai 2010.
Bitte schick uns der Vollständigkeit halber noch Deine kompletten Daten zu (Adresse etc.). Die Anmeldung ist hiermit verbindlich.
Du bist im Mehrbettzimmer untergebracht (5 Personen, Matratzenlagerstandard). Bring bitte einen Schlafsack, Bettlaken, Handtücher, Hausschuhe, Taschenlampe (bei Ankunft im Dunkeln schon griffbereit in der Tasche, da unsere Wege nicht beleuchtet sind) und bei Bedarf ein eigenes Kopfkissen mit.
Bitte nicht mitbringen: Haustiere, nichtbiologische Körperpflege- und Reinigungsmittel und eingeschaltete Handys.
Bitte überweise den Teilnahmebeitrag von 125 Euro unter Angabe Deines Namens mit Titel und Datum des Seminars auf unser Konto (s. u.).
Einen Seminarplatz können wir nur dann sicher gewährleisten, wenn der Teilnahmebeitrag spätestens 14 Tage vor Seminarbeginn bei uns eingegangen ist.
Freundeskreis Ökodorf e.V.
Volksbank Uelzen-Salzwedel
Kto.-Nr. …, BLZ …
Biologisches Shampoo hatte ich dabei, Weleda-Kastanie, ich kam als Musterschüler, wie ein Erstklässler mit bienenwachsimprägniertem Lederkanister. Das Handy war sowieso aus. Aber ich war zu spät, es war Freitagabend, und die Klassenfahrt hatte bereits vor einer halben Stunde begonnen.
Im Seminarhaus sah es hölzern aus wie im Reformhaus. In einem Vorraum ließ man die Schuhe stehen, ging mit wolligen Socken hinein und über Holzböden in die erste Etage, wo man seine Sachen in einen Schlafraum legte, auf eine Matratze unter eine Dachschräge, und dann betrat man den großen Raum im Dachgeschoss, wo die Wollsocken einander guten Abend sagten und sich auf unbehandeltem Parkett eines artgerechten Lebensraums erfreuten.
Eine Frau – Mitte dreißig, grün-rote Kleider, schwanger – leitete die Vorstellungsrunde gemeinsam mit zwei Achtundsechzigern, einem etwas jüngeren Mann in Lederjacke und einem älteren mit grauem Vollbart. Jeder in der Gruppe musste seinen Namen mit einem Adjektiv verbinden, das mit demselben Buchstaben begann. Ein Indianerstab wurde reihum gegeben. Wer ihn hielt, stellte sich vor, während die Seminarleiter die Zeit stoppten. Jeder hatte eine Minute. Sprach er einige Sekunden länger, unterbrachen ihn die Leiter.
Im Stuhlkreis saßen die ulkige Ute, der ehrliche Erhardt, der stille Sebastian, die schwangere Simone, der dolle Dieter, der grüne Gisi, die rasende Romy, der wahrhafte Werner (ich hatte erst »der wehr hafte« Werner verstanden und gedacht: »Wie seltsam!«). Starke Sonja, lustige Lena, wilder Wolf – ich war der jeanstragende Jan.
Der Achtundsechziger in Lederjacke war der Chef. Er sprach gefühlsschwer wie Udo Lindenberg und spielte zwischendurch Lieder auf der Gitarre. Eines hieß »Om shalei« oder so ähnlich. Alle sollten mitsingen. Der Mann äußerte darüber hinaus den Wunsch, dass wir mitfühlten, mitschwangen, mitsummten, dass wir uns öffneten, so wie ein Oberlehrer in der Nachkriegszeit von seinen Schülern Geradesitzen verlangte. Er sprach offenbar auch gern über Politik. »Die Fragen, die man links liegen gelassen hat, sind jetzt im Zentrum der Politik angekommen«, sagte er. Gemeinschaften und die »Ökodorfbewegung« gewännen immer mehr an Bedeutung. Er sagte lächelnd: »Der Buddha der Zukunft wird eine Gemeinschaft sein.« Das verstand, wer mochte.
Der älteste Mann in der Runde, der graubärtige Seminarleiter, stellte sich vor. Er saß einige Plätze von den anderen beiden Seminarleitern entfernt, der Schwangeren und dem Gitarrenmann, trug Filzpantoffeln, und sein Bart wuchs vom Kehlkopf bis unter die Wangenknochen hinauf wie Efeu an einer alten Villa. Um seinen Hals hing ein fröhlicher Schal. Sein Haar war voll, er sah aus wie ein in die Jahre gekommener Westernheld, außen faltig und innen feurig, sein Körper war nur noch ein Klappergestell, knochig wie die Äste eines dürren Olivenbaums.
Der Mann stellte sich vor: »Wolf, der wilde Wolf. Ich bin froh, hier zu sein, so froh. Ich bin froh, dass ihr gekommen seid, ich brauche eure Energien, danke. Im Februar wäre ich fast über die Schwelle gesprungen. Ich habe seit anderthalb Jahren Lungenkrebs. Im Februar kamen meine Freunde, um sich zu verabschieden. Aber als ich schon im
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