Vom Buch zum Byte. Kurze Geschichte des E-Books (German Edition)
Hyperlinks verbinden. Das Ergebnis war ein „Stack“ genanntes Hypertext-Geflecht, ganz ohne Internet, aber prinzipiell ähnlich. „Wenn die Leute heutzutage HyperCard sehen, oder dessen aktuelle Variante SuperCard, dann sagen sie: Sieht aus wie das Web“, hat nicht umsonst HyperCard-Veteran Ron McElfresh beobachtet.
Mit HyperCard konnte man aber nicht nur Wissen in Form von Buchstaben organisieren. Dank erweiterter Funktionen ließen sich multimediale Objekte miteinander verknüpfen. Kein Wunder, dass mit HyperCard etwa Multimedia-Enzyklopädien und Lernprogramme für Schule und Unterricht entstanden. Zugleich machten sich aber auch Schriftsteller das Instrument zu eigen, und es entstand mit der sogenannten „Hyperfiction“ ein völlig neues literarisches Genre.
Wie weit die Experimentierfreude der Autoren ging, zeigt John McDaids legendäre Hypercard-Novel „Uncle Buddy’s Phantom Funhouse“, die Anfang der 1990er Jahre vom US-Anbieter Eastgate herausgegeben wurde. Wie der zeitgenössische Werbetext verrät, bekam man statt eines normalen Romans einen Haufen von Material geliefert:
„Art ‘Buddy’ Newkirk ist verschwunden und hat Ihnen seinen literarischen Nachlass vermacht. Sieht so aus, als wären er und seine Freunde ein merkwürdiger Haufen gewesen. Vielleicht hätten Sie sie gerne kennengelernt. Naja, nicht wirklich. Aber wieso wäre das für ‘Onkel Buddy’ wichtig gewesen? Wo ist er überhaupt? Und was hat das alles zu tun mit Meister Eckhart und der New Yorker U-Bahn? Um das herauszufinden, legen Sie die Disketten in das Laufwerk Ihres Macs ein, spielen Sie seine Kassetten in ihrem Rekorder ab, und treffen sie Buddys Freunde, lesen Sie seine E-Mails, lauschen Sie der Musik seiner Band, und versuchen Sie, sich einen Reim aus Buddy’s äußerst merkwürdigem Tarot-Kartenspiel zu machen.“
Wer eher zufällig auf diesen Hypertext stieß – Disketten wurden damals ja gerne weitergegeben bzw. kopiert – stand erstmal vor einem echten Rätsel. So berichtet ein zeitgenössischer Leser:
„Ich dachte zuerst, es handelt sich um ein Computerspiel, und das Ziel ist es, herauszubekommen, was mit einem gewissen ‘Uncle Buddy’ passiert war. Ich klickte mich durch den Hypercard-Stack: er enthielt die Ausgabe eines Magazins für Computer-Poesie, den autorisierten Reprint einer Musik-Besprechung, bei der es um eine obskure Band namens ‘The Reptiles’ ging (zu denen Newkirk gehört haben sollte), ein nur teilweise erhaltenes TV-Drehbuch aus der Hand von Newkirk, Reste einer ausschweifenden E-Mail von Newkirks Freundin Emily, und dann auch noch das ‘Fictionary of the Bezoars’, ein illustriertes Hypertext-Glossar mit Anekdoten, Weisheiten und Insider-Witzen einer Gruppe von Theaterwissenschafts-Studenen der Universität Syracuse aus den späten Achtzigern.“
Da John McDaids romanesker Zettelkasten auf eine zentrale Erzählerfigur verzichtet, kann man natürlich als Leser auf die Idee kommen, das alles wäre gar nicht Fiktion, sondern Realität:
„Ich hatte langsam den Eindruck, dass dieser Newkirk, einer der besagten Kommilitonen aus Syracuse, einfach einen Schnappschuss aus seinem wirklichen Leben auf Hypercards dokumentiert hatte, so wie man es heutzutage auf einer Website machen würde.“
Der Hyperfiction-Mainstream war allerdings nicht ganz so exaltiert wie „Uncle Buddys Phantom Funhouse“. Klassiker wie Michael Joyces „Afternoon, a story“ (1987), Stewart Moulthrops „Victory Garden“ (1991) oder Shelley Jacksons „Patchwork Gir“l (1995) bestanden zwar zum Teil aus hunderten miteinander verlinkten Textblöcken. Doch gab es erkennbare Erzählerfiguren bzw. Erzählperspektiven, die das Lesen erleichterten. (Einen guten Online-Überblick zu den vor allem in den Neunziger Jahren entstandenen Hyperfictions vermittelt das „Electronic Literature Directory“.)
Die Weiterentwicklung der Hyperfiction wurde dabei seit Anfang der 1990er Jahre von „Storyspace“, einer speziellen Autorensoftware beschleunigt. Mit dieser von Eastgate Systems entwickelten Anwendung ließen sich die einzelnen Elemente einer Geschichte in Form eines Storyboards visualisieren, so ähnlich wie wir es mittlerweile beim „Clustering“ von Begriffen gewohnt sind. Viele englischsprachige Autoren benutzen Storyspace auch heute noch, um komfortabel die Handlung von Romanen, Drehbüchern oder Computerspielen zu planen.
Anfänglich wurden Hyperfictions fast ausschließlich auf Diskette oder CD-Rom
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