Vom Buch zum Byte. Kurze Geschichte des E-Books (German Edition)
Doch der Social-Media-Bewusstseinsstrom selbst ist offenbar schon in zu viele Informationshäppchen aufgeteilt und in zu viele Interaktionen aufgesplittet. Zumindest in der Literatur macht sich deswegen wohl das „Paradox of Choice“ bemerkbar – weniger ist manchmal mehr.
Zugleich hat ironischerweise gerade der E-Book-Boom der Nuller Jahre jedes elektronische Buch zum Hypertext gemacht. Denn gängige E-Book-Formate basieren auf HTML. Zu sehen bekommen wir das allerdings bisher zumeist nur im dynamischen Inhaltsverzeichnis, das direkt auf die einzelnen Kapitel verlinkt.
Eine Frage von Format: Vom ASCII-Code zum PDF
Wer heutzutage an E-Books denkt, denkt den E-Store gleich mit. Nicht so in den 1990er Jahren: damals dachte man eher an eine Bibliothek. Denn das World Wide Web brachte der klassischen Idee vom unendlichen Bücherregal neuen Auftrieb. Im Jahr 1994 prophezeite der Philosoph und Technik-Visionär Timothy Leary:
„Das Internet enthält das gesamte Wissen der Welt. Und dank dem Cyberspace können alle Menschen darauf zugreifen. Alle menschlichen Äußerungen, die bisher in Büchern enthalten waren, sind digitalisiert. Sie sind in Datenbanken verfügbar, genauso wie sämtliche Gemälde, alle Filme, alle Fernsehsendungen, absolut alles.“ (Timothy Leary, Chaos und Cyberkultur)
Anfangs enthielt das World Wide Web dabei vor allem das Wissen der Nordamerikaner, genauso wie zuvor die Letternwüsten des Internets. Die Darstellung von französischen, deutschen oder anderen fremdsprachlichen Texten scheiterte anfangs bereits am begrenzten Zeichensatz. Denn im Anfang war ASCII, und sonst nichts. ASCII heißt nicht umsonst „AMERICAN Standard Code for Information Interchange“. Erst 1985 kamen mit dem heute noch bekannten ISO-8859 bzw. ISO-Latin-Code orthographische Accessoires wie Umlaute oder Accents dazu.
Das 1990 von Tim Berners-Lee ins Leben gerufene World Wide Web entwickelte sich vor der großen Multimedia-Welle tatsächlich erst einmal zum gigantischen Wortspeicher. Dabei ging es nicht nur um die kulturelle Überlieferung, sondern auch um das Erfassen der Gegenwart. In den legendären Etext-Archives von Paul Southworth sammelten sich schon ab 1992 die ersten ausschließlich online publizierten Formate. Zu den Rubriken gehörten Bereiche wie “Politics”, “Fiction”, “Religion”, “Poetry”, aber auch “E-Zines”. Dahinter versteckte sich eine Vorform elektronischer Magazine. Wie John Labovitz, Gründer der damals ebenfalls populären E-Zine-List schrieb, richteten sich diese Fanzine-artigen Projekte noch ganz bewusst nicht an ein Massenpublikum, eine kommerzielle Verwertung war nicht vorgesehen.
Und die „echten“ E-Books? Während das Project Gutenberg auch weiterhin seine Mission verfolgte, Klassiker der Literatur elektronisch zur Verfügung zu stellen, startete mit der Online-Books-Page von John Mark Ockerbloom im Jahr 1993 eine Web-Plattform für aktuelle englischsprachige Titel aus dem Public Domain-Bereich. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Unterschied zwischen E-Books und E-Texten allerdings für den Betrachter kaum feststellbar. Was fehlte, war ein geeignetes Dateiformat, um dem Buch auch ein eigenes Layout zu geben.
Dafür sorgte das Unternehmen Adobe, als es im Jahr 1993 das „Portable Document Format“ (PDF) auf den Markt brachte. Um die PDF-Dateien lesen zu können, brauchte man den Acrobat Reader, den Adobe kostenlos zur Verfügung stellte. Mit großem Erfolg: in den ersten zehn Jahren bis 2003 wurden die unterschiedlichen Versionen des Programms mehr als 500 Millionen mal heruntergeladen. Die Formatfrage schien also geklärt, und für den Vertrieb bot sich das Internet an. Eröffnete sich hier eine Alternative zu Trägermedien wie Diskette oder CD-Rom? 1994 begannen die ersten US-Verlage mit E-Book-Marketing im Netz zu experimentieren.
So machte etwa National Academy Press wissenschaftliche Literatur online verfügbar, und das auch noch kostenlos. Überraschenderweise steigerte man damit den Umsatz mit gedruckten Büchern. Die Washington Post wunderte sich: „Intuitiv sollte man eigentlich denken: Das macht keinen Sinn. National Academy Press, ein Verlag aus Washington, veröffentlichte 1.700 aktuelle Titel via Internet, so dass jeder die Bücher umsonst lesen konnte. Im folgenden Jahr stieg der Umsatz um 17 Prozent. Die alte Weisheit von der Kuh, die niemand kaufen wird, wenn man sie kostenlos melken kann, scheint nicht mehr gültig zu sein.“
Auch MIT Press
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