Vom Buch zum Byte. Kurze Geschichte des E-Books (German Edition)
ausgeliefert, waren also genauso auf einen physischen Datenträger angewiesen wie gedruckte Bücher, um zum Leser zu gelangen. Der beginnende Boom des World Wide Webs schien bald jedoch eine weitaus passendere Umgebung für Hyperfiction zu bieten – denn wo wäre ein fiktionaler Hypertext besser aufgehoben als in einem realen, weltweiten Netz aus Hypertexten? Als einer der Pioniere darf der damals in New York lebende kanadische Autor Douglas Cooper gelten. Seine an Altmeister Thomas Pynchon geschulte urbane Underground-Hyperfiction „Delirium“ veröffentlichte er mit Unterstützung von Time Warner bereits 1994 als Romanserie im Internet. In welcher Reihenfolge die Abschnitte der einzelne Folgen gelesen wurden, war dabei dem Leser überlassen.
Als der Hyperfiction-Trend Anfang der 1990er Jahre in Deutschland ankam, prägten World Wide Web und Internet bereits die Vorstellungwelt der Autoren – ein Grund, warum sich Hyperfiction bei uns von Anfang unter dem Namen „Netzliteratur“ einbürgerte. Besonders intensiv experimentiert mit neuen Formen des vernetzten, oft auch kollaborativen Schreibens wurde im Rahmen der „Telematic Workgroup“ an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste.
Um das Leben in den endlosen Weiten des Webs dreht sich etwa Catherine de Courtens dort entstandenes Schreibprojekt „KaspaH´s Home“(1994), eine postmoderne Hommage an den Briefroman. In einer E-Mail mit dem Titel „Through the Worlds in 8 Bits“ stellt sich KaspaH als Person vor, die nur im Cyberspace existiert, ohne Erinnerungen an ein Offline-Leben:
„Hi, I’m KaspaH!
I don’t know you and I don’t know where I am. Actually I was found somewhere inside this world of bits. As my past is uncertain, I don’t know much about myself and about life. What’s the meaning of it all and what am I doing – I’m pretty curious!“
Im E-Mail-Dialog mit verschiedenen Adressaten macht sich KaspaH deswegen auf die Suche nach einer möglichen eigenen Identität – die sich aber nur als „Netzpersönlichkeit“ denken lässt:
„Meine Erfahrungen bestehen aus meinem Wahrnehmen anderer. Ich kann mich davon unterscheiden und abgrenzen und oder mich in ähnlichem wiederfinden. Und während ich meine Gedanken jemandem schreibe, muss ich mich selbst formulieren. So sind es die in unseren Gesprächen erzeugten Vorstellungen, die mich eigentlich ausmachen“
Für eine Weile wurde Netzliteratur im Leseland zum regelrechten Hype. Selbst das kulturkonservative Feuilleton sprang auf den neuen Trend auf – so lobte etwa die Wochenzeitung DIE ZEIT in Kooperation mit IBM ab 1996 über mehrere Jahre einen Wettbewerb für Internet-Literatur aus. Die Bedingungen klangen allerdings nach subtiler Rache der Gutenberg-Galaxis: Multimediale Texte waren nicht erlaubt, es durfte weder Video, Audio noch Java-Script Verwendung finden, abgesehen von 20 Kilobyte reinem Text konnten 40 Kilobyte für Grafik sowie 8 Kilobyte HTML-Code genutzt werden. Zu allem Überfluss wetterte dann auch noch ZEIT-Autor Christian Benne im Jahr 1998 kurz vor dem vorerst letzten Wettbewerb:
„Lesen im Internet ist wie Musikhören übers Telephon. [...] Literatur im Netz ist eine Totgeburt. Sie scheitert schon als Idee, weil ihr Widersinn womöglich nur noch von Hörspielen aus dem Handy übertroffen wird. [...] Literatur [...] kann allein in der Schrift von Generation zu Generation weitergegeben werden. Littera scripta manet. [...] Noch viel weniger als das Buch wird die Internet-Literatur in der Lage sein, eine moderne literarische Öffentlichkeit zu schaffen.“
Traditionelle Autoren waren für solche Experimente ohnehin kaum zu gewinnen, umgekehrt gab es jenseits von Festivals und Schreibwettbewerben aber auch noch keine wirtschaftliche Basis für die literarischen Hypertexter. Eine Verwertung fand wenn überhaupt eher auf traditionellem Wege statt – so kam etwa 1998 eine erweiterte Fassung von Douglas Coopers früher Online-Hyperfiction „Delirium“ in gedruckter Form heraus. Die ursprüngliche Hypertextualität lässt sich zwischen den Buchdeckeln nur noch erahnen.
Ausgerechnet der Siegeszug von Web 2.0, Blogosphäre und sozialen Netzwerken hat die Lust am Experimentieren mit komplexen literarischen Erzählformen im Web inzwischen aber auch deutlich reduziert. Was in den 1990er Jahren avantgardistisch war, wirkt heute fast schon banal. Die Zahl der Webautoren hat sich seit dem Jahr 2000ff. vervielfacht, letztlich sind wir alle zu Textproduzenten geworden.
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