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Vom Daemon verweht

Vom Daemon verweht

Titel: Vom Daemon verweht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kenner
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Wahrheit wollte ich gar nicht Stuart an diesem Tag neben mir wissen. Ich wollte Eric. Während ich zuhörte, wie meine Tochter ihren Aufsatz dem Publikum vorlas, kämpfte ich gegen die Tränen an, die mir jeden Moment über die Wangen zu laufen drohten.
    Trauer ist etwas Seltsames. Wenn ich Eric in jenen Tagen verloren hätte, als wir beide noch als Dämonenjäger arbeiteten, wäre es mir wahrscheinlich leichter gefallen, mit seinem Tod zurechtzukommen. Damals war der Tod etwas Alltägliches. Er war normal, man erwartete ihn im Grunde. Doch dann hängten Eric und ich unseren Dämonenjägerhut an den Nagel. Wir kündigten bei der Forza Scura und zogen zuerst nach Los Angeles und später nach San Diablo – eine der Städte mit der geringsten Dämonenpopulation in Nordamerika. Zumindest damals. Wir bekamen unsere kleine Tochter und genossen die Vorzüge eines Kleinstadtlebens.
    Wir waren glücklich. Wir führten ein normales Leben, hatten eine normale Familie, lebten in einer normalen Stadt. Unsere alltäglichen Probleme drehten sich um Rechnungen, Autoreparaturen und tropfende Wasserleitungen. Die dämonischste Kreatur, der wir begegneten, war die Leiterin von Allies Kindergarten. Wir verbrachten unsere Abende nicht mehr damit, unsere Waffen zu kontrollieren, in Zauberbüchern herumzustöbern oder unsere Kenntnisse in den neuesten Kampftechniken aufzufrischen. Wir brachten Allie ins Bett, machten es uns auf dem Sofa gemütlich und sahen uns all die Filme an, die wir während unserer wahrlich ungewöhnlichen Kindheit notgedrungen versäumt hatten.
    Es hatte Zeiten gegeben, da ich eine Stichwunde mit meinen Fingern hatte zuhalten oder eine Arterie mit Schwarzpulver hatte kauterisieren müssen. Doch nachdem ich mich mit Eric zurückgezogen hatte, standen solche Aktivitäten nicht mehr auf unserem Tagesplan – eine Tatsache, die mich sehr froh gemacht hatte. Wir verbrachten zehn wunderbare Jahre, in denen wir lernten, normal zu sein und uns auch so zu fühlen. Wir waren glücklich und schienen in unserer kleinen märchenhaften Welt, die wir uns aufgebaut hatten, geborgen zu sein. Doch es war stets eine Illusion geblieben, denn schließlich kannten wir die Wahrheit. Im dunklen Märchenwald verstecken sich auch immer Riesen oder Hexen, die einen blitzschnell in den Ofen stecken, wenn man gerade einmal nicht aufpasst.
    Und es gab noch eine andere Wahrheit, wie uns zu spät bewusst wurde: Dämonen sind nicht die einzig bösen Wesen, die im Dunklen auflauern. Es gibt auch schlechte Menschen. Und einer dieser schlechten Menschen tötete meinen Mann. Er stahl ihm sein Geld und ließ Eric sterbend in einer kalten, nebligen Straße in San Francisco zurück.
    Das ist die schreckliche Ironie unserer Geschichte. Mein Mann, der so viele übernatürliche Wesen zerstört hatte und eine derart schnelle Reaktionsfähigkeit besaß, dass sie geradezu an ein Wunder grenzte, war von einem ganz normal Sterblichen und einer Neun-Millimeter-Waffe getötet worden.
    Wahrscheinlich gab es eine Moral dieser Geschichte. Aber darüber wollte ich nie nachdenken. Damals wollte ich nur eines: Eric zurück. Meine Fassungslosigkeit, dass er unter solch banalen Umständen ums Leben gekommen war, ließ meine Trauer noch größer werden. Ich trug sie auch jetzt noch in mir. Sie verbarg sich nur unter der Oberfläche meines neuen, glänzenden Lebens. Eines Lebens, das ich so sehr genoss, dass meine Erinnerungen an Eric und die Trauer, die mit diesen Erinnerungen verbunden war, stets ein leises Schuldbewusstsein in mir auslösten.
    Als ich noch jung, mutig und dumm gewesen war, hatte ich mich nie vor dem Tod gefürchtet. Jetzt aber empfand ich eine solche Angst davor, wie das nur eine Mutter kann. Ich möchte meine Kinder nicht allein auf der Welt zurücklassen. Noch nicht. Verdammt – im Grunde nie, aber ich bin pragmatisch veranlagt und weiß, dass es sich eines Tages nicht vermeiden lassen wird.
    Das Schwierigste an Erics Tod war für mich das Mitleid, das ich für ihn empfand. Mit Allies Geburt hatte er ein Geschenk bekommen, und dieses Geschenk hatte ihm jemand entrissen. Er versäumte ihre Geburtstage, ihre Küsse und ihre Cheerleader-Auftritte. Es war ihm nicht vergönnt gewesen, irgendwelche Jungs böse anzusehen oder von Allie zu verlangen, um Punkt neun zu Hause zu sein. Er verpasste auch den heutigen Tag und durfte unserer wunderbaren Tochter nicht dabei zusehen, wie sie ausgezeichnet wurde und einem ganzen Saal voller Leute einen Aufsatz vorlas,

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