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Vom Daemon verweht

Vom Daemon verweht

Titel: Vom Daemon verweht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kenner
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immer wieder einen Blick auf die Tür, um zu sehen, ob David eintrat. Da das nicht der Fall war, begann ich, mir alle möglichen Szenarien auszumalen. Ich stellte mir vor, wie er die Leiche fand und die Polizei anrief und in diesem Moment vielleicht bereits Dutzende von Polizeiwagen mit heulendem Blaulicht auf die Schule zubrausten, um mich gleich in Handschellen und in orangefarbener Gefängniskluft abzuführen.
    Laura reichte mir die Schlüssel. »Du hinkst«, flüsterte sie mir zu.
    »Das habe ich gerade schon mal gehört.«
    »Alles in Ordnung?«
    »Für den Moment – ja«, gab ich flüsternd zurück. »Ich erzähle es dir später.«
    Sie nickte, und ich schob den Gedanken an das Gefängnis und den toten Dämon beiseite. Dann blickte ich mich in der Turnhalle um, da ich Stuart suchte. Er war nirgends zu entdecken. Ich wisperte Laura seinen Namen ins Ohr, doch sie zuckte nur die Achseln.
    Auch ihr Mann glänzte durch Abwesenheit. Das hatte ich allerdings auch nicht anders erwartet. Paul ist Geschäftsführer eines großen Fastfood-Konzerns und verbringt viel Zeit in seinem Büro bei Los Angeles. Laura verdächtigte Paul seit einigen Monaten einer Affäre. Für ihren Geschmack verbrachte er nämlich viel zu viel Zeit in Los Angeles. Doch bisher hatte sie den treulosen Kretin noch nicht zur Rede gestellt.
    Stuart war kein treuloser Kretin. Das bedeutete allerdings auch, dass er keine plausible Ausrede hatte, nicht auf dem Familientag zu erscheinen. Und es bedeutete, dass ich verdammt wütend war – vor allem, nachdem er sich so weit aus dem Fenster gelehnt hatte, um mir zu versichern, dass er bestimmt da sein würde.
    Mir blieb nicht viel Zeit, mich in meinem selbstgerechten Ärger zu suhlen. Mrs. George war inzwischen bei den Preisen und Auszeichnungen angelangt, die in der Schule während des laufenden Jahres vergeben worden waren. »Und das Halbjahr ist noch nicht einmal zu Ende!«, rief sie begeistert, wozu wir alle pflichtbewusst klatschten.
    Sie nannte einige Auszeichnungen für besondere sportliche Leistungen und akademische Errungenschaften. Dann stellte sie Stella Atkins, die Feuilleton-Redakteurin des San Diablo Herald, vor. Und diese rief meine Tochter auf die Bühne.
    Ich drückte Allies Hand und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an, als sie sich ihren Weg zum Podium bahnte. Stolz nahm sie den Preis entgegen. Ich konnte deutlich sehen, wie sie die Menge absuchte und dabei den Blick vor allem auf die beiden Türen gerichtet hielt. Ich wusste, was in ihr vorging. Ihr Aufsatz handelte vom Weihnachtsfest und der Bedeutung der Familie. Vom Verlust eines Vaters und von der Freude, einen anderen gefunden zu haben. Keinen Ersatz, keine Fortsetzung der alten Verhältnisse, sondern einen neuen Anfang. Und außerdem dann noch einen Urgroßvater, der das ganze Bild abrundete.
    Ich war da. Eddie war da. Aber Stuart glänzte durch Abwesenheit.
    Ich tippte Laura auf den Arm und flüsterte: »Handy, bitte!« Sie reichte mir ihr Telefon, und ich wählte Stuarts Nummer in der Hoffnung, dass er sich direkt vor den Türen der Turnhalle befand.
    Seine Voicemail schaltete sich ein.
    Zornig klappte ich das Telefon zu und spürte, wie sich Wut und Enttäuschung einer schweren Decke gleich auf mich legten.
    Ich konnte nur hoffen, dass er an diesem Abend nichts mehr von mir erwartete. Denn das Einzige, was er bekommen würde, war eine kalte Schulter.
    Ich mochte vielleicht vor Wut beben; aber Allie gelang es, die Fassung zu wahren, obwohl sie bestimmt mindestens ebenso enttäuscht war wie ich. Sie hielt eine eindrucksvolle Dankesrede, und das mit einer Stimme, die nicht ein einziges Mal zitterte. In diesem Moment war ich stolzer denn je auf sie.
    Ich war darauf vorbereitet gewesen, einen kleinen Stich in meinem Herzen zu spüren, als sie ihre ersten Schritte machte, als sie zum ersten Mal den Kindergarten besuchte und als sie Fahrrad fahren lernte. Das sind sicher die typischen Momente, in denen wohl jede Mutter ähnlich empfindet. Denn sie spürt, dass sich ihr Kind immer weiter von ihr entfernt.
    Doch die Augenblicke, die sich leise von hinten an einen heranschleichen, die Augenblicke, in denen sich ein Kind von seiner besten Seite zeigt und man gar nicht anders kann, als das Gefühl zu haben, es wird seinen Weg schon machen – das sind die Augenblicke, die mich im Innersten treffen.
    Und so wütend ich darüber war, dass Stuart durch Abwesenheit glänzte, so merkte ich doch, dass ich mir auch etwas vormachte. In

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