Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
dogmatischer Verengung zu erliegen. Man muss aufpassen, nicht die schmale Grenze von ganzheitlichen zu totalitären Ansichten zu überschreiten. Wir haben die Sehnsucht, genau wissen zu wollen, wo es langgeht, und das macht sogar große Geister anfällig für primitive und barbarische Weltanschauungen.
Martin Heidegger zum Beispiel konnte sich der Faszination des Nationalsozialismus nicht entziehen. Er, der sich zeitlebens mit der grundlegenden Frage nach dem Sein beschäftigte, gab 1966 in einem Interview mit dem Spiegel (1976, S.193 ff.) zu, 1933 von der Größe und Herrlichkeit des nationalen Aufbruchs überzeugt gewesen zu sein.
Auch Karlfried Graf Dürckheim stand damals im Bann des Nationalsozialismus. Er arbeitete während des Krieges als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in Japan mit dem Auftrag, die dort praktizierten Erziehungsmethoden wissenschaftlich zu erforschen. Die Nationalsozialisten waren an den pädagogischen Techniken, mit denen die Japaner damals die gesamte Gesellschaft durchmilitarisierten, ebenso interessiert wie an ihren sakralen Meditations- und Bewusstseinsübungen. 1942 veröffentlichte Dürckheim (vgl. Trimondi, 2002) in Japan eine Nazipropagandaschrift Neues Deutschland – deutscher Geist. Selbst soll er über diese Zeit gesagt haben: »Ein Nazi war ich nicht, aber auch kein Anti-Nazi.« Nach dem heutigen Wissensstand kann diese subjektive Bewertung bezweifelt werden, da er von Anbeginn Mitglied der SA war und vor allem in Japan als Propagandafunktionär wirkte.
Es geht mir hier nicht um Verurteilung. Für mich persönlich sind Martin Heidegger und Graf Dürckheim hochgeschätzte geistige Lehrer gewesen, die selbst viele Wandlungen durchgemacht haben. Vielmehr will ich für die Möglichkeit sensibilisieren, dass wir uns in einer vergleichbaren Situation ähnlich verhalten könnten. Einerseits sind es kindliche Wünsche nach einer heilen Welt, die blind machen; anderseits geht man mit sich selbst meistens unkritischer um, je anerkannter man ist. Therapeuten beispielsweise, die einen hervorragenden Ruf haben, können eigene Schwächen nur schwer zugeben. Das führt dann im Konfliktfall dazu, dass Klienten eher die Fehler bei sich suchen, wenn sie die therapeutische Beziehung als unbefriedigend erleben. Sie verbieten sich, den Helfer zu kritisieren, aus Angst, ihn dann zu verlieren.
Das angestrebte Ganzsein des Menschen könnte auch im Sinne eines harmonischen Idealismus so missverstanden werden, dass man die Vergänglichkeit und Verletzlichkeit unseres Daseins ausklammern möchte. Die Verdrängung dieser existenziellen Wunde macht anfällig für harmonisierende Weltanschauungen. Krankheit, Tod, Konflikte und Schwierigkeiten gehören essenziell zum Leben. Diese Grundbedingungen des Daseins umgehen zu wollen weckt überhöhte Erwartungen und führt zu einer Spaltung zwischen Ideal- und Realzustand der Persönlichkeit. Wenn moralische Ansprüche nicht mehr mit dem gelebten Leben Schritt halten können, erkrankt man an einer Neurose. Die Diktatur von Sollensforderungen, die den Blick für realistische Einschätzungen trüben, erzeugt Minderwertigkeitsgefühle und unbewussten Selbsthass. Nicht selten sind spirituelle Adepten darin gefangen.
Vollkommene Selbstverwirklichung ist nur durch einen langen Weg zu erreichen. Deshalb ist es ratsam, davon auszugehen, dass wir uns diesem Ziel nur annähern können. Mit Sicherheit ist es weniger schädlich, vollkommen zu sein und es nicht zu merken, als umgekehrt. Das Ego kann sich überall aufpfropfen, und insbesondere jene, die es bekämpfen möchten, sind davor am wenigsten gefeit. Um lebendig, authentisch und wahrhaftig werden zu können, muss man sich seiner selbst bewusst werden, Spaltungen aufheben und Grenzen öffnen. Dadurch wächst das Fundament für ein zufriedenes Leben. Glücklich werden wir nicht durch Perfektionsansprüche, sondern nur dann, wenn wir bereit sind, an uns zu arbeiten.
Der »Weg zur Ganzheit« bezieht sich demnach vor allem auf das Unterwegssein.
Offene Spiritualität
Offene Spiritualität unterstützt immer das unmittelbare Gewahrsein. Die Berührung mit dem Göttlichen kann nur persönlich und frei von Dogmen erfahren werden. Erst wenn die Konzepte und Gedanken zur Seite treten, lichtet sich der Schleier, weil wir direkt wahrnehmen, was ist. Das ist Erleuchtung ohne Überhöhung, eine tiefe Einsicht in das, was geschieht. Der Weg dorthin verläuft auf mehreren Ebenen: Bewusstwerdung des universalen Selbst,
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