Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Mosaiksteinchen zur Befreiung sein. Insofern können spirituelle Übungen zu einer Lockerung der schematischen Abläufe beitragen. Außerdem wird durch die Erfahrung des All-Einen die Lebensgeschichte relativiert, so dass man leichter aus der Opferrolle auszusteigen vermag. Darüber hinaus können in einer spirituellen Grundstimmung, die auf Wertschätzung und Liebe ausgerichtet ist, Verletzungen leichter heilen. Das konnte ich gerade in der Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen eindrucksvoll erleben. Nach einer intensiven Prozessarbeit gegen Ende einer holotropen Atemsitzung, wenn noch meditative Musik läuft, erleben die meisten, die einfach noch auf ihrem Platz liegen und nachspüren, eine ausgesprochen heilsame Atmosphäre. Jede Art von Heilung geschieht auch im Bunde mit dem universalen Selbst. Die transpersonale Psychologie und Psychotherapie bezieht in ihre Anwendung beides ein, Problembewältigung und spirituelle Öffnungen.
»Der Weg zur Ganzheit« will also Seelisches integrieren, Transpersonales zulassen und sich auf Spirituelles stützen. Wenn jemand an Lebensproblemen leidet und sich nicht mit Spiritualität befassen möchte, ist es natürlich möglich, sich alleine darauf zu konzentrieren. Wenn es dann in psychotherapeutischen Behandlungen vereinzelt zu spirituellen Phänomenen kommt, sollten diese aber wertschätzend als Erfahrung, so wie sie sich zeigt, betrachtet und nicht umgedeutet werden. Etwas anderes ist es, wenn jemand einen spirituellen Weg geht. Dann kann man schwerlich die seelische Integration und die transpersonalen Bedingungen des Daseins außer Acht lassen. Immer dann, wenn das Loslassen schwerfällt und starke emotionale Probleme in den Vordergrund treten, sollte man eine Bearbeitung der unbewussten Dynamik anempfehlen. Die Schwachstellen der Psyche müssen berücksichtigt werden, will man eine authentische, unabhängige und freie Spiritualität fördern.
Weil der Mensch ein unteilbares Ganzes ist, kann man sich nicht auf einem Gebiet entwickeln und die anderen Gebiete vernachlässigen. Seelische, transpersonale und spirituelle Prozesse sind so stark ineinander verschränkt, dass zwar vorübergehend bestimmte Themen in den Vordergrund rücken können, aber alle Seiten gewürdigt werden müssen. Das ist, was als »Weg zur Ganzheit« gemeint ist. Wir wissen aus vielfältigen Erfahrungen, dass Psychotherapie bei spirituellen Fragestellungen an ihre Grenzen gestoßen ist und dass spirituelle Traditionen oftmals emotionale Probleme zu wenig ernst nahmen. Dies führte zu Verdrängungen und Symptombildungen und behinderte den inneren Fortschritt ganz erheblich. Die Früchte, die man in einem Bereich erarbeitet hat, verloren ihre Qualität, weil andere Aspekte zurückblieben. Wenn sich aufgeklärte Spiritualität die Erkenntnisse der humanistischen und transpersonalen Psychologie zunutze macht, können spirituelle Einstellungen von unbewusster Dynamik befreit und neu ausbalanciert werden. Mitgefühl verkommt dann nicht zu oberflächlicher Nächstenliebe, die in moralischem Druck oder unreflektierten Harmoniebedürfnissen gegründet ist und bei der das Herz nicht mehr mitschwingt. Es ist dann ein lebendiges In-Beziehung-Sein, das auch Unterschiede und Konflikte kennt, ohne diese überzubetonen.
Demut, bei der die Grenze zur Selbstverkleinerung und Unterwürfigkeit schnell überschritten werden kann, wird im Einklang mit den Fähigkeiten und Kompetenzen kraftvoll und ausdrucksstark. Leidenschaftliche Hingabe zu einem spirituellen Meister zerfließt dann nicht in abhängiger Unterwürfigkeit, sondern bleibt sich selbst treu in würdevoller Anerkennung der erhaltenen Gnade. Hingabe ist nicht Abhängigkeit, sondern fokussiertes und umfassendes Engagement. Autonomie der Persönlichkeit bedeutet dann nicht schrankenlose Freiheit des Ego, sondern ist mit der Einsicht verbunden, dass man aufeinander angewiesen ist und gemäß seiner Leistungsfähigkeit Verantwortung für das Ganze zu tragen hat. Wünsche zu relativieren bedeutet nicht, den Dingen keinen Wert beizumessen oder auf alles zu verzichten, sondern sie nur richtig einzuschätzen und mit einzubeziehen, dass sie vergänglich sind. Es geht also um ein Loslassen von der Illusion, durch Befriedigung von Wünschen dauerhaft zufrieden zu werden. Sinnesfreuden werden demzufolge als Ausdruck der Fülle des Lebendigen erlebt, ohne dass sie immer ausgelebt werden müssen. Ein moderater Lebensstil beinhaltet einen Genuss ohne Reue,
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