Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
nicht abgewertet wird, sondern Respekt erfährt, dann ist das ein gutes Omen. Zweifel sind in der Regel Zeichen einer engagierten Wahrheitssuche und dienen als wichtige Schnittstelle für die nächsten Schritte. So kann es gut sein, dass jemand für sich bemerkt, dass die Begleitung nicht mehr erforderlich ist, oder gerne anderes kennenlernen möchte. Wenn die persönliche Entwicklung des Klienten beziehungsweise Schülers im Mittelpunkt steht und nicht der Hochmut oder die Konzepte des Begleiters, können vorübergehende Bindungen konstruktiv gelöst werden. Dauerhafte Abhängigkeit ist Gift für eine emanzipierte Spiritualität. Schüler, die einen Ashram dazu benutzen, ihrer weltlichen Verantwortung zu entfliehen, sind dort fehl am Platze. Deshalb sollen Verhaltensweisen, die darauf hindeuten, konfrontiert und mögliche Heilserwartungen abgebaut werden.
Bevor Interessierte sich für eine bestimmte Richtung psychospiritueller Entwicklung entscheiden, sollten sie genau abwägen, ob sie das wirklich wollen. Es ist besser, noch ein wenig zu warten, falls Zweifel oder Unsicherheiten auftauchen. Verantwortliche spirituelle Begleiter nehmen die Bedenken ernst und empfehlen, diese erst zu klären, bevor irgendwelche Verpflichtungen eingegangen werden. Lehrende sollten selbst lange Schüler gewesen sein, denn nur dann können sie sich entsprechend einfühlen und wissen, wovon sie sprechen. Ein weiterer Punkt ist die Offenheit, Schattenaspekte anzuerkennen. Wer die Liebe erweitern und Geduld üben möchte, kommt auch mit Hass, Destruktivität und Anspannung in Kontakt. Dies ist nicht moralisch zu bewerten, sondern liegt in der Natur des Menschen. Deshalb sollte das nicht ausgeblendet, sondern einfach wahrgenommen und von seinem Ursprung her verstanden werden. Eine gewisse Skepsis ist auch dann angebracht, wenn existenzielle Entscheidungen, wie Aufgeben von Beruf, Familie oder sozialem Umfeld, gefordert werden. In den allermeisten Fällen ist nicht das Weggehen aus dem Alltag die Lösung, sondern sich möglichen Konflikten zu stellen, sich mit hinderlichen Strukturen auseinanderzusetzen und die eigenen Muster zu hinterfragen.
In psychotherapeutischen Ausbildungen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Kompetenz erst dann wirksam wird, wenn sie von Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit und Authentizität getragen ist. Das sind die Basisvariablen jeder guten Begleitung. Das gilt ganz besonders, wenn es in Krisen unumgänglich ist, informell zu reagieren und mehr Termine einzuräumen, um Stabilität zu gewährleisten. Sachverständige psychospirituelle Begleiter sehen Inneres und Äußeres in einem sinnvollen Zusammenhang. Alles, was sich ereignet, kann zu wertvollen Einsichten verhelfen. So ist es allgemein bekannt, dass gehäuft auftretende Unfälle eine passive Aggression gegen sich selbst sein können. Dabei sollte man solche Erkenntnisse nicht besserwisserisch aufoktroyieren, als würde man über allem stehen. Ausschlaggebend ist immer, dass Begleiter sich als Assistenten des universalen Selbst und der Selbstheilungskräfte verstehen. Das ist aber auch nur dann wirklich möglich, wenn sie beständig an ihrem eigenen Ego arbeiten, spirituelle Übungen durchführen und ein bewusstes Leben führen. Anderen Menschen Empfehlungen auszusprechen, an die man sich selbst nicht hält, ist doppelbödig.
Kritik und Konfrontation, die aus einer achtsamen Haltung entspringen, sind ein wichtiges Mittel, Suchende voranzubringen. Wenn der Begleiter zu allem ja und amen sagen würde, wäre es schwer, Fehler zu beheben oder Widerstände abzubauen. An dieser Stelle möchte ich einen Schwenk zu Meister-Schüler-Verhältnissen machen, weil von Außenstehenden Konfrontationen oft schief aufgefasst werden.
Spirituelle Gurus sind unbestechlich und direkt, so dass ihre Aktionen manchmal sonderbar wirken. So war ein Mann Chauffeur einer berühmten Sufimeisterin. Während einer Autobahnfahrt befahl sie ihm plötzlich, anzuhalten. Dann teilte sie ihm mit, dass er nun das Auto zu verlassen habe und ab sofort nicht mehr ihr Fahrer sei. Er war schockiert und schimpfte monatelang, dass sie ihn nur ausgenützt hätte. Erst nach zweieinhalb Jahren begriff er, dass er durch die ständige Nähe zur Meisterin überheblich geworden war, andere Schüler schlecht behandelt und schon längst seine spirituellen Übungen unterbrochen hatte. Das aufgeblähte Ego war ein fundamentales Hindernis, das es zu überwinden galt. Nachdem er das eingesehen hatte, war
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