Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
schließlich alle Brücken ab, hörte mit den täglichen Yoga-Übungen auf, las keine einschlägige Literatur mehr, konzentrierte mich ganz auf die objektiven Wissenschaften und wandte mich gegen alles Esoterische.
Nach etwa fünfzehn Jahren, während meiner Tätigkeit als Psychotherapeut in einem psychiatrischen Krankenhaus, wurden mir wieder übersinnliche Eingebungen zuteil. Folgendes geschah: Am Ostersonntag, als ich zu Hause frühstückte, tauchte plötzlich in mir eine Szene auf, ähnlich einem Traumbild, in der sich eine Patientin aus einem Fenster stürzte. Sofort fuhr ich in die nahe gelegene Einrichtung, und tatsächlich hatte sich genau das ereignet. Die Patientin wurde von einem Pfleger von der hausinternen Kirche zur geschlossenen Abteilung begleitet, und als sie im Flur ein geöffnetes Fenster sah, riss sie sich los und sprang in die Tiefe. Zum Glück landete sie auf einem Rosenstrauch und konnte mit nur leichten Verletzungen geborgen werden. Zur Krankengeschichte: In einem Zustand geistiger Umnachtung tötete sie Monate zuvor ihre zwei kleinen Kinder und verletzte ihren Mann schwer. Vor ihrem Selbstmordversuch hörte sie, wie die Mutter Gottes zu ihr sagte, dass sie jetzt ihre Kinder sehen könne, wenn sie sterben würde. Als ich über dieses Geschehen mit ihr arbeitete, erlebte sie tiefe Trauer und Schmerz über das, was sie ihren Kindern angetan hatte. Nach vielen Monaten intensiver Psychotherapie begann sie allmählich, mit sich selbst Frieden zu schließen.
Für mich war dieses Ereignis so einschneidend, dass ich den Faden von früher wieder aufnahm. Ich arbeitete an mir, meditierte wieder und befasste mich eingehend mit veränderten Bewusstseinszuständen. Nachdem ich mich später dann von Stanislav Grof im Holotropen Atmen hatte ausbilden lassen, richtete ich meine Arbeit immer mehr nach der Transpersonalen Psychologie aus und entschloss mich zu einem langfristigen spirituellen Weg. Ohne diese wiedererlangten Fähigkeiten könnte ich mir nicht mehr vorstellen, Menschen in die tiefen und weiten Räume des Bewusstseins zu begleiten. Heute kann ich das Resümee ziehen, dass der innere Zugang zur anderen Wirklichkeit eine gewisse persönliche Reife voraussetzt. Nur wer das Ego transformiert, sich der Kraft des universalen Selbst anvertraut und regelmäßig meditiert, kann sichergehen, mit diesen Kräften in rechter Weise umzugehen. Wer den Bezugspunkt zum All-Einen stets erneuert und den Weg nach innen konsequent beschreitet, wird belohnt. Da das Göttliche alles umfasst, kann es von jedem Punkt aus erfahren werden. Unabhängig von der Situation und von der Verwirklichungsebene, immer kann es vergegenwärtigt werden. Man braucht nur den Schleier der Gedanken und Vorstellungen zu lüften, um in der eigenen Mitte das höchste Selbst zu finden.
Die vertikale Transzendenz, das Tiefergehen, ist nur durch persönliche Erfahrung möglich. Dabei können drei Transzendenzgrade verwirklicht werden.
Der erste Grad oder die Ebene des Beobachters tritt dann ein, wenn man sich vom Ich und seinen Objekten allmählich löst. Dafür ist die stille Meditation besonders geeignet. Die auftauchenden Bilder, Vorstellungen und Empfindungen werden zwar registriert, dann aber nicht ergriffen. Zusätzlich wird dieser Prozess durch die Beruhigung des Atems unterstützt. Dabei wird das aktive Denken abgebaut, das gegenwärtige Gewahrsein gepflegt und das Spürbewusstsein verfeinert. Der Bewusstseinsstrom kann dann einfach fließen. Durch das fortwährende Entidentifizieren werden die Pausen zwischen den Gedanken länger und die Zwischenräume größer. Überhaupt zeigt sich die einzigartige Wirklichkeit, die nur durch ein verfeinertes Bewusstsein aufgespürt werden kann, im »Zwischen«. Zwischen aufsteigenden und absteigenden Gedanken, zwischen den Atemzügen und Bewegungen, zwischen Tun und Nicht-Tun, zwischen den Lauten, Bildern, Gefühlen und Werten. Erst wenn man innehält und still wird, kann man die Zwischentöne hören und die Fülle in der Leere entdecken. Das bewirkt mehrere Veränderungen. Man realisiert die Vergänglichkeit der vordergründigen, äußerlichen und oberflächlichen Bezugspunkte, auf denen die Identität aufgebaut ist. Es entsteht ein Freiraum, in dem das universale Selbst ins Zentrum rückt. Die Sehnsucht nach dem tieferen Grund des Seins wächst. Das erleichtert die Versöhnung mit dem Schicksal und das Heraustreten aus der Opferrolle, weil man sich stärker in der Verantwortung für die
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